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Kalogridis, Jeanne - Die Seherin von Avignon

Kalogridis, Jeanne - Die Seherin von Avignon

Titel: Kalogridis, Jeanne - Die Seherin von Avignon Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Unbekannter Autor
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je mit der Herstellung von Amuletten und Heiltränken abgegeben hatte.
    Kurz darauf schlief Schwester Barbara tief und fest. Den Kopf nach vorn geneigt, das Kinn bequem auf die Brust gestützt, die verschränkten Arme in den langen Ärmeln verborgen, schnarchte sie leise vor sich hin, während sie nach wie vor die anmutige Haltung einer betenden Nonne beibehielt.
    Ungeachtet der Steifheit in meinen Beinen stand ich lautlos auf. In meiner Phantasie huschte ich bereits an Schwester Barbara vorbei durch den Korridor bis zu der selten benutzten Tür zwischen dem Abtritt und dem Krankenflügel hinaus in die Nacht und den Wald und die Berge ... Doch im Reich des Körperlichen regte ich mich nicht, konnte ich es nicht, mein Herz und mein Wille ließen es nicht zu, da sich mir der Wille der Göttin offenbart hatte. Meine Bestimmung lag hier, in dieser Zelle, in diesem Kloster, in den Händen von Mutter Geraldine und dem Bischof.
    Angewidert von meinem Missbrauch der Zauberkraft, setzte ich mich wieder und befreite Schwester Barbara von dem Bann. Ein sanfter Ruck durchfuhr die Nonne, als sie aufwachte. Sie blinzelte ein paar Mal, schaute sich um, und nachdem sie zufrieden festgestellt hatte, dass ich noch in meiner Zelle war, nahm sie die Perlenschnur an ihrem Gürtel zur Hand und begann, einen Rosenkranz zu beten. Eine tiefe Ruhe legte sich über mich. Ich spürte nicht das Elend und die Hoffnungslosigkeit, welche die Verlorenen überkommen, sondern den wahren Frieden, den ich schon nach Nonis Tod in Gegenwart der Göttin empfunden hatte. So verweilte ich, bis der Morgen anbrach.
    Nachdem die Glocken zur Prim geläutet hatten und das Sonnenlicht hell durch das Fenster drang, schaute Schwester Barbara auf, als hätte ein unsichtbares Wesen sie berührt. Sie erhob sich und sagte mit verhaltener, ernster Stimme: »Kommt, Schwester.«
    Dann führte sie mich zu Mutter Geraldines
    Schreibstube und schob nach schüchternem Anklopfen den Riegel zur Seite. Als die Tür sich öffnete, standen die Äbtissin, Habondia und der Bischof vor mir. Ein Anflug von Furcht durchströmte mich, als sich die Tür hinter mir schloss, doch ich konnte sie unterdrücken, indem ich an Noni und die Göttin dachte.
    Mutter Geraldine ergriff als Erste das Wort. »Du hast deine Sache gut gemacht, mein Kind - genug für die erste Lektion. Du hast gelernt, dass Furcht die Göttin verdrängt und Zauberkraft, die aus Furcht angewendet wird, großes Übel mit sich bringt. Irgendwann wird jedoch die Zeit kommen, da du die Furcht meistern musst, denn auch nur eine Spur davon in deinem Herzen wird dich vernichten. Es ist noch ein weiter Weg, ehe du bereit bist, deine Bestimmung anzunehmen.«
    Während ich noch wie vom Donner gerührt dastand, trat der Bischof auf mich zu, beugte ein Knie und küsste mir die Hand. »Herrin.«
    Als er sich zurückzog, trat Habondia an seine Stelle. »Herrin«, sagte sie voller Inbrunst, »vergebt mir, dass ich dazu ausersehen war, Euch Schmerz zuzufügen.«
    Geraldine, offenbar die führende Kraft unter den dreien, verbeugte sich nun ihrerseits, und nachdem auch sie mir feierlich die Hand geküsst hatte, erklärte sie: »Herrin, Ihr werdet hier bei uns immer in Sicherheit sein, denn wir haben geschworen, Euch zu beschützen.«
    »Wer seid Ihr?«, fragte ich verwundert. »Seid Ihr eine Hexe oder eine Christin?«
    Auf diese Frage schenkte mir Geraldine ein strahlendes Lächeln. »Vielleicht weder das eine noch das andere, Herrin. Vielleicht beides. Zwar sind wir Frauen - außer unserem tapferen Bischof hier -, doch gehören wir ebenso den Rittern des Templerordens an.«
    Mit einer raschen Bewegung zog sie unter Habit und Haube ein Halsband mit einer hellen, glänzenden Scheibe hervor, die eine hebräische Inschrift und Sterne trug - ein goldenes Siegel Salomos.
    »Das Wichtigste, was Ihr jetzt lernen müsst«, hob Geraldine an, nachdem der Bischof und Habondia gegangen waren und wir allein in ihrer Schreibstube standen, »ist zu wissen, wer Ihr seid. Vielleicht habt Ihr es schon bis zu einem gewissen Grade erfahren, vielleicht hat auch Eure Großmutter Euch die Geschichte erzählt, die sie von ihrer Lehrerin gehört hat. Vielleicht auch nicht. Doch Ihr seid gewiss als Kind, dann als junge Frau zur Messe gegangen und habt von der Erschaffung des Menschen durch Gott gehört.
    Ich will Euch eine andere Legende erzählen, die genauso alt ist, vielleicht sogar noch älter. Sie handelt von einem Kind, das eine Frau wurde. Magdalena lebte an

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