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Kalogridis, Jeanne - Die Seherin von Avignon

Kalogridis, Jeanne - Die Seherin von Avignon

Titel: Kalogridis, Jeanne - Die Seherin von Avignon Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Unbekannter Autor
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Finsternis umschloss - wir wagten nicht, eine Lichtquelle mitzubringen, deren Schein womöglich durch einen Spalt hätte dringen und uns verraten können -, dachte ich: Jetzt sitzen wir in der Falle. Wir waren zwar blind, aber nicht völlig taub. Durch Luftritzen in der Mauer konnten wir die Rufe der hereinstürmenden Engländer hören, ebenso die Schreie der flüchtenden Franzosen und das Donnern von Hufschlägen. Schließlich vernahmen wir Fußtritte direkt über uns, es mögen Dutzende gewesen sein, und kurz darauf das Klirren von Metall auf der Treppe. Zuletzt schlurfte ein einzelnes Paar schwerer Stiefel in den Keller hinunter, begleitet von schweren Atemzügen und einem sehr menschlichen, sehr ekelhaften Geruch.
    Die Stimme eines Mannes ertönte, knarrend, derb und nicht imstande, auch nur eine einzige französische Silbe richtig auszusprechen: »Na schön, Ladys! Wenn ihr hier irgendwo versteckt seid, werdet ihr uns nicht entkommen. Wenn ihr euch jetzt stellt, verspreche ich euch, dass euch kein Leid geschehen wird ...«
    Wir sagten keinen Ton, drängten uns aber in der Dunkelheit so eng aneinander, dass meine Schultern und Knie fest an Magdeleine zu meiner Rechten und Geraldine zu meiner Linken gepresst wurden. Vor mir saß Jacques, und das Ende seiner verdrehten Wirbelsäule drückte auf meine Füße. Ich spürte Magdeleines warmen Atem auf meinem Gesicht.
    »Schwestern«, rief der Engländer in seinem entstellten Französisch, »wenn ihr hier seid, werden wir euch finden.
    Rettet euch und meldet euch jetzt ... Wir werden euch freundlich behandeln, wenn ihr euch ergebt ...« Gewiss war er ein großer Mann, denn wir konnten seine Schritte deutlich hören, während er durch den großen Keller schritt.
    Plötzlich polterten die Schritte Dutzender die Kellertreppe herunter. Fremde, tiefe Stimmen stellten laute Fragen in einer fremden Sprache, und unser Engländer antwortete. Nach einer kurzen Stille hörten wir, wie noch mehr Männer in den Keller drangen.
    Ein paar Schwestern stöhnten vor Schreck leise auf, zum Glück hörte sie niemand.
    Stundenlang verharrten wir in unserer verkrampften Haltung, während immer wieder Soldaten kamen und gingen. Über uns konnten wir noch mehr Soldaten auf den Treppen hören, sie waren in den Zellen und im Freien. Schließlich war der Keller erfüllt von den Geräuschen einer ganzen Armee, die sich für die Nacht einrichtet: Die Männer zogen Matratzen und Vorräte herein. Ich bildete mir ein, gebratene Hühner und Opferwein zu riechen. Sie redeten laut und lachten bis spät in die Nacht, und als ich schon nicht mehr daran glaubte, wurden sie schließlich still und begannen zu guter Letzt zu schnarchen.
    La bona Dea, betete ich mit den Worten, die meine Großmutter so gemocht hatte.
    Göttin, ich überlasse mich deinen Händen, zeige mir, was zu tun ist.
    Ich spürte nämlich, dass das Überleben unserer Gemeinschaft in diesem Augenblick einzig und allein von mir abhing, und die Klarheit dieser Erkenntnis - dass ich jetzt das Zweite Gesicht einsetzen musste, wenn ich unser Leben nicht aufs Spiel setzen wollte -, veranlasste mich, den Kopf Geraldine zuzuwenden und mit kaum hörbarer Stimme zu flüstern: »Kreis.«
    Sie hatte sofort verstanden, ergriff meine Hand und drückte sie. Magdeleine auf der anderen Seite tat es ihr nach, obwohl sie meine Worte unmöglich gehört haben konnte. Ein Laut, leiser als ein Seufzen, drang durch den Raum, als mit größter Behutsamkeit und Vorsicht jene, die dem Geschlecht angehörten, einen Kreis bildeten und sich die Hände reichten, während alle anderen sich in die Mitte begaben, wo sie in Sicherheit waren. Diejenigen unter uns, die dazu in der Lage waren, errichteten lautlos einen schützenden Ring. Nachdem ich mich selbst und meine Furcht aufgegeben hatte, erfüllte mich schließlich ein mächtiger Friede - ja, sogar ein tiefes Gefühl der Freude. Und ich hatte eine klare Vision:
    Die Engländer nutzten das Kloster als bequeme Unterkunft für einen Teil ihrer Legion, und als sie wieder abzogen, steckten sie es in Brand. Ich roch den Rauch, obwohl er in drei Tagen erst kommen sollte. Ich vernahm die Schreie der hilflosen Leprakranken und meiner Schwestern, spürte die Hitze der Flammen und wie die Steinmauern um uns herum rot aufglühten.
    Und ich sah die Stadt Carcassonne vor mir, ihre Türmchen, ihre Wachtürme, die zwischen der ersten und der zweiten Ringmauer aufragten. Ich hörte die Leute sagen: Sie werden niemals hereinkommen, wir

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