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Kalogridis, Jeanne - Die Seherin von Avignon

Kalogridis, Jeanne - Die Seherin von Avignon

Titel: Kalogridis, Jeanne - Die Seherin von Avignon Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Unbekannter Autor
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mannshohen Bögen. Sie wirkten wie dunkle Heuschrecken, die in unregelmäßigen Schwärmen aufstiegen, denn sie marschierten seit Monaten durch das Land und kümmerten sich längst nicht mehr um die Schlachtordnung. Doch das war auch nicht nötig. Es gab weder Herolde mit Trompeten noch leuchtende Banner, die im Wind flatterten. Aber es sollte auch nicht sein. Es war kein Krieg, es war das pure Gemetzel.
    Wie alle anderen Städte, die sie erobert hatten, war auch Carcassonne nicht auf die Truppen vorbereitet. In aller Eile hatte man eine kleine Armee, die aus den Gardisten des Grand Seigneurs und Bürgern bestand, zusammengestellt, doch es waren nicht mehr als zweihundert Mann. Wir standen auf den Feldern im Norden des Klosters und sahen entsetzt zu, wie die wenigen Kampfbereiten sich gegen den herannahenden Feind sammelten.
    Der Tag war außergewöhnlich kalt. Am Abend zuvor hatten wir das Getreide mit Stroh bedeckt, um es vor Frost zu schützen, und an jenem Morgen hatten sich meine Fingernägel in der zugigen Kapelle deutlich blau gefärbt. Jetzt stand ich im Freien und hatte meinen Umhang vergessen, doch die Kälte, die ich spürte, war keine körperliche. Bisher hatte ich meine Gedanken und Gaben auf andere Dinge konzentriert und dem nahenden Krieg nur flüchtige Aufmerksamkeit geschenkt, doch in jenem Augenblick wurde mir ein schwacher Einblick gewährt, in das, was uns bevorstand. Ich barg die Hände in meinen langen Ärmeln und rieb mir über die Oberarme, um warm zu werden.
    Obwohl auch Marie Magdeleine ausgebildet worden war, der Furcht zu begegnen, füllten sich ihre Augen mit Tränen. Sie umklammerte Mutter Geraldines Arm, und ihr dampfender Atem war deutlich in der kalten Luft zu sehen, als sie sagte: »Mutter, wir müssen fliehen, sonst werden sie uns alle umbringen, ebenso wie sie die armen Seelen in Bordeaux getötet haben.«
    Als die Äbtissin Magdeleine anschaute und deren Tränen gewahrte, wurden ihre Gesichtszüge milde. »Geht, wenn Ihr gehen müsst, Schwester, und bleibt, wenn Ihr bleiben müsst. Was mich betrifft, ich muss bleiben.« Dann wandte sie sich mit lauter Stimme an alle anderen Schwestern: »Wer fortgehen will, kann den Wagen und die Pferde nehmen, außerdem so viel Nahrungsmittel und Wein wie möglich.«
    Nicht eine Seele rührte sich. Ein fast unmerkliches Lächeln glitt über die Lippen der Äbtissin. »Was sagt Euch Euer Zweites Gesicht?«, wollte sie von mir wissen. Ich dachte an die Schafe und Kühe, die auf den Feldern vor uns grasten, an den mit Stroh abgedeckten Lauch und die Erbsensträucher, an die Bäume, die noch voller Äpfel, Pfirsiche und Nüsse hingen, und hatte die Vision, dass alles innerhalb weniger Stunden verschwände. Ich vernahm das Stampfen englischer Füße auf den Klostertreppen. »Sie kommen hierher, zum Kloster.«
    »Was noch?«, fragte Geraldine beherrscht und barsch wie ein feilschender Kaufmann.
    Ich war sprachlos, da ich mit einem Mal nichts mehr sehen konnte. In Demut erkannte ich, dass es eine Sache ist, seine Furcht im Frieden geistiger Versenkung zu überwinden, eine ganz andere jedoch, sie in Wirklichkeit zu bezwingen. Als ich nicht antwortete, fuhr Geraldine fort: »Barbara, Magdeleine, geht in den Garten und sammelt so viel Gemüse und Äpfel ein, wie ihr könnt, und lauft dann in den Keller. Die anderen kommen mit.« Sie raffte ihre Röcke und begann zu rennen.
    Wir folgten ihr. Zuerst gingen wir zum Krankenflügel und führten zunächst die Leprapatienten, soweit es ihr Zustand zuließ, in den Keller. Ebenso wurden alle sonstigen Kranken, die gehen konnten, hinuntergebracht. Drei Nonnen liefen in die Küche, um so viel Nahrungsmittel und Getränke zusammenzuraffen, wie sie tragen konnten. Wie betäubt arbeitete ich an Geraldines Seite auf der Pflegestation, wo der alte Jacques die anderen Leprakranken anwies, sich auf seinem Rücken festzuhalten, während er sie die Treppe hinunterschleppte. Auch wir Schwestern trugen alle, die zu schwach waren, um sich auf den Beinen zu halten, indem wir unsere Finger zu einem provisorischen Sitz ineinander verschränkten. Unser Ziel war die verborgene magische Kammer, deren Wand wir von innen mit Steinen verschlossen, nachdem alle dort versammelt waren.
    Ich vertraute Geraldine völlig und stellte ihre Anordnungen in keinster Weise in Frage, denn sie kannte den Willen der Göttin ebenso gut wie ich, wenn nicht besser. Doch als uns unter dem Rumpeln und Schaben von Stein gegen Stein schließlich die

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