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Kalogridis, Jeanne - Die Seherin von Avignon

Kalogridis, Jeanne - Die Seherin von Avignon

Titel: Kalogridis, Jeanne - Die Seherin von Avignon Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Unbekannter Autor
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sind gut befestigt. Diese Steine haben tausend Jahre gehalten ... Tödliche Feuerpfeile flogen durch die Luft, die Holzpalisaden fingen Feuer, die Tore krümmten sich unter der Schlagkraft des Rammbocks.
    In der Stadt sah ich Tausende Tote, dahingerafft von den verheerenden Bränden.
    Dann tauchte das beunruhigende Bild eines scharfen, hoch erhobenen Schwertes vor mir auf, das drohend über den Köpfen von Magdeleine und Geraldine schwebte. Sie schrien laut auf und hoben die Hände, um sich vor dem Schlag zu schützen.
    Obwohl mir meine Vision all diese schrecklichen Dinge zeigte, konnte ich meine Furcht beherrschen. Denn ich sah auch, was ich tun musste, und mit demselben Atemzug spürte ich erneut eine sengende Hitze. Diesmal ging sie jedoch nicht vom Feuer, sondern von der Macht des Siegels Salomos an meinem Hals aus, und diese Macht drang direkt in mein Herz.
    Mein Verstand sagte mir, es sei zu unsicher, das Versteck zu verlassen, da allein das Schrammen der Steine über den Boden die Soldaten auf der Stelle wecken würde. Natürlich wusste ich auch, dass um das Kloster herum Wachen aufgestellt waren und wir ihnen ohne Waffen hilflos ausgeliefert wären.
    Doch ich war an einem Punkt, an dem der Verstand längst nicht mehr mein Handeln bestimmte. Ich war erfüllt von einer unbändigen Freude, die alle Vernunft, alle Furcht und jeden Zweifel durchdrungen hatte, und verspürte ein tiefes Erbarmen, sowohl für die erschöpften Krieger als auch für den erschreckten Bürger, für den Mörder wie das Opfer - und ich empfand Zuneigung für beide. Da überkam mich erneut eine Vision, und verstört und gestärkt zugleich wandte ich mich an Schwester Geraldine: »Ihr habt mich gelehrt, der Furcht zu widerstehen, der Gefahr ins Auge zu sehen. Wollt Ihr mir Euer Leben anvertrauen? Denn dann wird es mit gelingen, uns alle in Sicherheit zu bringen und die Kranken vor dem sicheren Tod zu bewahren.«
    Und in der Dunkelheit fühlte ich ihr zustimmendes Lächeln.
    Eine Wärme hatte mich erfasst, ein wohliges Gefühl wallte in mir auf, und um unsere Gruppe von vielleicht drei Dutzend Seelen begann die Finsternis mit winzigen goldenen Funken zu glitzern, wie eine sternenklare Nacht. Mit Hilfe meiner Willenskraft hüllte ich unsere Versammlung darin ein, so wie sich die zarte Schale um ein Ei schließt, und als die Hülle uns sicher umgab, sagte ich in normaler Lautstärke: »Nun werden wir alle so furchtlos sein, dass wir uns dem Schrecken der Engländer stellen können. Ihr Leprakranken bleibt vorerst hier. Schwestern, ihr kommt mit mir. Lasst uns zur Göttin beten, damit wir alle gerettet werden.«
    Gemeinsam fanden Mutter Geraldine und ich die richtigen Steine in der aufgeschichteten Mauer und zogen mit aller Kraft daran. Die Tür - ich glaube, sie war wie der raue Felsblock geformt, der den Eingang zur Grabstätte Jesu blockierte - glitt rumpelnd zur Seite. Ich konnte nicht sagen, ob wir uns in einer Kugel befanden oder ob die ganze Welt in goldenem Staub glitzerte, die Wirkung auf meinen Mut war dieselbe. Geraldine und ich traten als Erste hinaus, Magdeleine folgte gleich dahinter, und vor Schreck blieben wir sogleich wie angewurzelt stehen. Denn keine Daumenlänge von der geöffneten Mauer - und von unseren Füßen -entfernt lag der fleckige, kahle Kopf eines wohlgenährten, schnarchenden englischen Soldaten auf dem Boden. In seinen fettigen kastanienbraunen Locken krabbelten bereits Läuse. Neben ihm lag sein Helm, allerdings keine leicht zugespitzte Haube mit Visier, wie sie unsere Ritter trugen und die an das mittlere Blatt der Lilie erinnert, sondern eine Kappe, die aussah wie eine umgedrehte, zu mattem Braun abgestumpfte Schüssel mit breitem, flachem Rand. Magdeleine warf mir aus weit aufgerissenen, entsetzten Augen einen raschen Blick zu, und das schimmernde Gold um uns herum begann einen Moment lang zu flackern.
    »Habt keine Angst«, beruhigte ich sie und drückte ihr die Hand.
    In diesem Augenblick grunzte der Soldat wie ein Schwein und blies anschließend die Luft aus, sodass seine Lippen und der drahtige rote Schnurrbart bebten. Doch nicht alle Engländer schliefen.
    Am Kellereingang auf der anderen Seite saßen zwei Wächter, die sich leise bei einem Würfelspiel stritten, aber sie hatten uns noch nicht bemerkt.
    Allein im Keller lagen vielleicht vierzig Männer, fest in die Wolldecken eingehüllt, die wir für unsere Patienten und die Armen herstellten, denn es war hier kälter als in den anderen Räumen. Etwa

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