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Kalogridis, Jeanne - Die Seherin von Avignon

Kalogridis, Jeanne - Die Seherin von Avignon

Titel: Kalogridis, Jeanne - Die Seherin von Avignon Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Unbekannter Autor
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seien die einzigen Überlebenden. Vom benachbarten Dorf und den Häusern der Leibeigenen, die unsere Felder bearbeitet hatten, und der Schäfer, die unsere Schafe gehütet hatten, waren nur vernarbte Erde und geschwärzte Mauerreste geblieben.
    Unsere Abtei hingegen lag nur teilweise in Trümmern: Der Schlafsaal war in Brand gesteckt worden, sodass die gesamte Einrichtung vernichtet war, doch obwohl sich in den Räumen Schutt und Asche häuften, hatte das Steingebäude alles unbeschadet überstanden. In diesen vergleichsweise friedlichen Stunden säuberten wir den großen Saal, der als Krankenstation gedient hatte und von allen Zimmern noch am besten aussah. Dort wohnten und schliefen wir alle: Nonnen, Leprakranke und Laien, und jeder, der dazu in der Lage war, arbeitete an der Wiederherstellung unseres Klosters mit.
    Alle, denen es gelungen war, vor den Engländern zu fliehen, kehrten nun nach Carcassonne zurück und fanden alles in Schutt und Asche vor. Diejenigen, die geblieben waren und wie durch ein Wunder sowohl die Eindringlinge als auch den Brand überlebt hatten, liefen vor den Stadtmauern herum und suchten nach Nahrung. Und alle hatten sie uns und die Nahrungsmittel, die uns der normannische Kommandeur zurückgelassen hatte, schnell entdeckt. Kurz darauf war das Kloster, das über viele Jahre hinweg nur zu einem Drittel belegt war, restlos überfüllt. Zusätzlich zu den Hungernden und Durstenden nahmen wir all jene auf, die Verletzungen durch Feuer oder Schwert davongetragen hatten oder am verseuchten Wasser erkrankt waren. Wir hatten mehr Kranke zu pflegen, als wir bewältigen konnten, und bei weitem nicht genug Nahrung, um sie satt zu bekommen. Viele heilte ich mit der Kraft der Göttin und schickte sie wieder fort. Obwohl wir Nonnen unsere eigenen Rationen abgaben, was zur Folge hatte, dass wir Hunger litten, war dennoch nicht genug da. Wir beteten täglich um Hilfe.
    Sie kam schließlich in Gestalt des Bischofs. Unangekündigt, ohne Begleitung, in der Soutane eines armen Dorfpriesters fuhr er eines Morgens auf einem von zwei Eseln gezogenen Karren vor. Zu unserem Entzücken war der Karren mit kostbaren Schätzen aus Toulouse gefüllt: Käse, Wein, Äpfel, eine Schar Hühner mit einem Hahn sowie Mehl und Olivenöl, an der Seite des Karrens waren sogar ein Widder und zwei Mutterschafe angebunden. Hocherfreut nahmen wir diese Geschenke entgegen. Dann bat der Bischof Mutter Geraldine und mich zu einem persönlichen Gespräch. Wieder gingen wir in Mutter Geraldines Schreibstube, die inzwischen einigermaßen hergerichtet war.
    Als der Bischof die Kapuze seines abgetragenen schwarzen Umhangs abstreifte, bemerkten wir die angespannten Lippen, die Falten auf der Stirn und den grimmigen Blick aus seinen Falkenaugen. »Ich bin nicht in offizieller Mission hier«, begann er mürrisch, und bei seinen Worten stieg Dampf in der kalten Luft auf. »Aber ich muss Euch mitteilen, dass der Kirche Gerüchte zu Ohren gekommen sind über die Wunderheilung des Leprakranken Jacques, und die Würdenträger waren geteilter Meinung darüber, ob dieses erstaunliche Vorkommnis nun von Gott oder dem Teufel initiiert worden sei. Beide Ansichten waren gleich stark vertreten, und meine Stimme gab schließlich den Ausschlag.
    Jetzt wird nach außen hin verkündet, die Heilung sei ein Wunder Gottes gewesen, aber Schwester Marie Franchise solle keine besondere Aufmerksamkeit zukommen. Da sie eine Frau von gewöhnlichem Stand sei, könne sie schwerlich das rohe Werkzeug von Gottes Gnaden gewesen sein, behauptet der Erzbischof.« Geraldine und ich dachten eine Weile über seine Worte nach. Dann sagte die Äbtissin: »Ihr solltet wissen, Euer Heiligkeit, dass in unser Kloster Normannen und Engländer eindrangen, deren Kommandeur mich tödlich verwundet hat. Schwester Marie hat mich vor den Augen aller geheilt, ihre Gabe ist also kein Geheimnis mehr. Das Gerücht wird sich jetzt rasch im Volk verbreiten - so wie es von der Göttin vorgesehen war.«
    Er hörte ihr genau zu und nickte ehrfürchtig. Sie fügte noch hinzu: »Ich habe Schwester Marie alles beigebracht, was ich wusste, Bernard, und sie hat rasch gelernt. Sie braucht meine Anweisungen nicht mehr. Mit Eurem Segen werde ich daher meine Stellung als Äbtissin aufgeben. Schwester Marie Francoise soll an meiner statt dieses Amt antreten. So ist es bestimmt; ich habe es geträumt.«
    Nach einer Woche wurde ich offiziell zur Äbtissin ernannt, und unsere kleine Schar wurde bekannt als die

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