Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Kalogridis, Jeanne - Die Seherin von Avignon

Kalogridis, Jeanne - Die Seherin von Avignon

Titel: Kalogridis, Jeanne - Die Seherin von Avignon Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Unbekannter Autor
Vom Netzwerk:
Nonnen und Soldaten bekreuzigten sich einer nach dem anderen und knieten nieder. Es kümmerte mich nicht, was sie zu sehen glaubten, ich wusste nur, was getan werden musste. Ich bezwang meinen Kummer, kniete neben Geraldine nieder, drehte sie sanft auf die Seite und zog mit einiger Mühe das Schwert aus ihrem Körper. Sie stöhnte, als es sich löste, denn sie lebte noch. Ja, sie lebte, doch aus der tiefen Wunde quoll Blut, dunkler noch als ihr dunkles Habit und als meine Ärmel, und sickerte in den Boden. Bald würde sie verbluten.
    Ich saß auf dem kalten Erdboden und nahm sie in die Arme.
    Sie war dazu bestimmt, meine Lehrerin zu sein; sie hatte nicht sterben sollen. Nun stand ich vor einem Abgrund: Ich könnte mit Bitterkeit reagieren. Ich könnte der Göttin entsagen und mein Schicksal verfluchen. Ich könnte vor dem, was sein musste, davonlaufen. Doch ich wollte es nicht.
    Ich schloss die Augen und presste meine Hand auf ihre Wunde, meine Röcke waren bereits von ihrem Blut durchtränkt. Geraldine war schlaff und röchelte sterbend in meinen Armen.
    Ich lächelte, weil mir das Ganze so widersinnig erschien. Dann löste ich mich auf - Vereinigung. Strahlen. Wonne. Da ging ein Raunen durch die Menge wie das Flattern von Vogelschwingen.
    Ich schlug die Augen auf und schaute in Geraldines. Sie wirkten nicht mehr matt und desinteressiert, vielmehr strahlend blau und lebhaft - und sie sahen auf mich herab, denn Geraldine hatte sich aufgerichtet. Meine Hand lag noch immer fest auf ihrer Wunde. Die Äbtissin zog sie langsam und sanft fort. Sie stand strahlend auf und reichte mir die Hand, um mir auf die Beine zu helfen. Ich war viel zu verblüfft, um darauf zu reagieren.
    »Ihr habt gerade ein wahres Gotteswunder erlebt«, verkündete sie der knienden Versammlung, und dem normannischen Kommandeur liefen Tränen über das Gesicht.

XIII
    Erst später erfuhr ich, warum sowohl die Soldaten als auch die Nonnen niedergekniet waren: nicht etwa, weil ich den Mut besessen hatte, mich ihnen entgegenzustellen, sondern weil ich ihnen als Jungfrau Maria erschienen war. Erst nachdem Geraldine mir auf die Beine geholfen hatte, war ich wieder ich selbst.
    Die anderen betrachteten uns eine Weile schweigend. Dann standen Soldaten und Nonnen auf. Geraldines Haut leuchtete nun, wie Pergament, das man vor eine Flamme hält. »Ich habe das Gesicht der Mutter Gottes gesehen«, flüsterte sie mir ins Ohr. »Sie ist hier unter uns.« Der Normanne trat mit bekümmertem Blick auf uns zu, die Handflächen wie zum Gebet aneinander gelegt.
    »Schwester«, begann er zögerlich. »Sagt mir, was ich tun soll. Ich bin kein guter Christ, habe seit Monaten keine Messe mehr besucht, doch ich kann nicht leugnen, was ich gerade mit eigenen Augen gesehen habe.«
    »Betet zur Heiligen Mutter«, forderte ich ihn mit einer Autorität auf, die mich verblüffte. »Hört genau darauf, was die Göttin Eurem Herzen befiehlt und missachtet alle, die Ihr widersprechen.«
    »Aber welche Buße soll ich tun?«, fragte er beharrlich.
    »Fragt Sie«, erwiderte ich.
    Die Engländer und Normannen waren zunächst entsetzt, dann ernsthaft verärgert, als sie entdeckten, dass wir sowohl Leprakranke als auch Überlebende der Pest bei uns versteckt hatten. Wir hatten ihrer Meinung nach die Absicht verfolgt, sie anzustecken.
    Doch Schwester Geraldine zeigte auf uns Schwestern und sagte: »Seht Ihr unsere Gesichter? Sind sie etwa voller Beulen? Sieht man auch nur irgendein Anzeichen der Lepra? Dennoch pflegenwir einige dieser Patienten schon seit Jahren. Gott und der heilige Franziskus - und die Heilige Mutter - schützen uns, und wir werden Euch schützen, wenn Ihr uns nur glaubt.« »Dass mir keiner die Schwestern bedroht«, ermahnte der Kommandeur seine Männer und gab den Befehl, man solle uns und die Patienten in die gewohnten Quartiere ziehen lassen und uns Decken, Nahrung und Wein geben. Ungeachtet des Wunders traute man uns offenbar nicht vollends, denn in den Korridoren wimmelte es von Wächtern mit Laternen. Einer stand direkt vor meiner Zelle Wache.
    Sobald ich gut gegessen und getrunken hatte, wurde mir wunderbar warm, und ich sank sogleich in einen tiefen Schlaf, denn die Ereignisse des Tages hatten mich sehr geschwächt.
    Die Engländer hielten uns am nächsten Tag versteckt, behandelten uns aber stets freundlich. Wir dürften uns auf keinen Fall zeigen, sonst würden sie gewiss von ihren Kameraden erschlagen, beharrten sie. Doch am Tag darauf - an jenem

Weitere Kostenlose Bücher