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Kalogridis, Jeanne - Die Seherin von Avignon

Kalogridis, Jeanne - Die Seherin von Avignon

Titel: Kalogridis, Jeanne - Die Seherin von Avignon Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Unbekannter Autor
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schrecklichen dritten Tag, den ich schon in meiner Vision gesehen hatte - pferchten sie uns noch vor Morgengrauen auf Wagen und brachten uns in die Wälder westlich der Stadt. Die Normannen behaupteten, sie zögen nach Südosten ab. Von dort stiegen wir in die Berge hinauf. Die Leprakranken mussten wir zu unserem Bedauern unten im Wald zurücklassen. Schließlich fanden wir eine schützende Höhle, die uns als Aussichtspunkt diente, und von der aus wir der Zerstörung zusahen.
    Seitdem ich Geraldine geheilt hatte, waren unsere Häscher mir und den anderen Nonnen gegenüber höflich, um nicht zu sagen respektvoll, aufgetreten, doch der Kommandeur warnte uns, dass sie gewisse unerfreuliche Dinge tun müssten, um nicht als Verräter verfolgt und umgebracht zu werden.
    In den Stunden nach Sonnenuntergang sahen wir zu, wie die Stadt - eine große, ovale Ansammlung von Gebäuden aus Holz wie aus Stein - allmählich vom Feuer verzehrt wurde. Aus der Entfernung sah es aus, als schlüge in einer Ecke ein Feuerstein Funken, als flackerte in einer anderen eine Kerze, eine Lampe wieder woanders, bis die gesamte Stadt schließlich nicht mehr wie eine Ansammlung einzelner Kerzen wirkte, die auf dem Altar der Erde brannten, sondern eine einzige große Feuersbrunst war, die sich gelb-orange von dem rauchgeschwängerten Himmel abhob. Bleiern hingen die Qualmwolken vor dem Dunkel der Nacht. Die Steinwände der Oberstadt brannten nicht, doch die Überreste der Holzpalisaden glühten wie ein rubinroter Reif um das flammende Juwel, um Carcassonnes Unterstadt.
    Dann brachen die ersten Brände außerhalb der Stadt aus und verschlangen Felder, Bäume, Blumen, sie löschten das gesamte Leben aus. Wir sahen zu, wie die strohgedeckten Häuser in den Dörfern von einem leuchtenden karminroten Sturm verzehrt wurden. Wir verfolgten auch, wie die Flammen aus den Fenstern unseres geliebten Klosters emporzüngelten. Das Gebäude war aus Stein und würde den Brand zum Großteil überstehen, sodass wir es wieder aufbauen konnten, doch sämtliche Fensterläden, Holzvertäfelungen, der Altar und der Altarschmuck, die Statuen von Maria, Jesus und dem heiligen Franziskus, Arzneimittel, Verbandsmaterial, und auch die liebevoll gehegten Kräutergärten - all das wurde vernichtet. Der Ostwind trieb Rauch und Asche zu uns herüber, die in unseren Augen und Kehlen brannten, bis uns Tränen über die Wangen liefen.
    Ich weinte nicht über die Zerstörung von Gegenständen, nicht einmal über den Tod Unschuldiger, denn alles war vergänglich, auch das Leben und das Leid. Was auch immer zerstört war, es würde verwandelt und neu geboren werden.
    Vielmehr weinte ich, weil ich endlich in den Flammen, die Carcassonne einschlössen, meinen Geliebten sah. Zunächst war er nur ein Schatten, doch dann erschien er mir klar und deutlich in einer Vision: ein ernster junger Mann, ebenso gepeinigt wie ich von der Distanz, die zwischen uns lag. Meine Tränen waren Ausdruck reinen menschlichen Verlangens und der Enttäuschung über mich selbst, da ich die Furcht, die uns trennte, noch immer nicht überwunden hatte.
    Das alles sah ich mit meinem Zweiten Gesicht im rasenden Feuer, bis ich eine zarte, liebevolle Berührung auf meinem Arm wahrnahm, eine Berührung, die mein Herz besänftigen, meinen Schmerz lindern sollte. Ich hörte auf zu weinen, drehte mich um und blickte direkt in Geraldines Gesicht. Sie lächelte sanft und tröstend. Doch ich fand nicht die innere Kraft, ihr Lächeln zu erwidern. Die richtige Zeit war noch nicht gekommen, unsere Herzen waren noch nicht bereit, und uns blieb nichts anderes übrig, als zu warten.
    Nach dem Abmarsch der Engländer Richtung Süden machten wir eine schwere Zeit durch. Die Überlebenden liefen durch die Straßen der Stadt und über die Felder vor den zerstörten Stadtmauern, doch wohin die Menschen auch schauten, war die Erde verbrannt. Von den jahrhundertealten Obstgärten und Weinbergen waren nur noch verkohlte Stümpfe übrig geblieben. Selbst das Wasser war verschmutzt: Die Engländer hatten die Leichen ihrer Opfer in Flüsse, Bäche und Brunnen geworfen. Der Brunnen des Klosters indes war nicht verseucht. So hatten wir wenigstens frisches Wasser und ein wenig zu essen. Die Normannen hatten in einem unberührten Feld hinter dem Kloster einige Vorräte an Mehl, Obst und Gemüse vergraben, sodass wir nicht hungern mussten. In den ersten paar Tagen, nachdem die Stadt niedergebrannt worden war, blieben wir allein und glaubten, wir

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