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Kalogridis, Jeanne - Die Seherin von Avignon

Kalogridis, Jeanne - Die Seherin von Avignon

Titel: Kalogridis, Jeanne - Die Seherin von Avignon Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Unbekannter Autor
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Schwestern des heiligen Franziskus der Königin des Himmels. Während das Leben in Carcassonne allmählich wieder leichter wurde, wuchs unsere Abtei beständig, ebenso wie mein Ruf als Wunderheilerin. Die Kranken und Lahmen, Blinden und Missgestalteten strömten aus allen Himmelsrichtungen herbei, damit ich ihnen die Hände auflegte. Manche von ihnen heilte ich, wenn es der Göttin gefiel. Einige der wohlhabenden Gläubigen überhäuften uns mit Geschenken: Gold, Pferde, Weinberge und Grundbesitz. Ich weiß nicht, wie ich das alles ohne die Hilfe von Schwester Ursula Marie verwaltet hätte. Sie war die Tochter eines Kaufmanns und erfahren im Umgang mit Münzen und dem Führen der Bücher. So viele Laienbrüder und -Schwestern boten uns freiwillig ihre Hilfe an, sei es bei der Krankenpflege, der Arbeit auf dem Feld oder der Tierhaltung, dass wir Nonnen in der Lage waren, endlich wieder mehr Zeit dem Studium und den Gebeten zu widmen.
    Was mich betrifft, so trübte die Ungeduld, die tief in meinem Herzen wohnte, mein Urteilsvermögen. Ich beschäftigte mich immer seltener mit der Frage, wie ich meine Furcht überwinden konnte, vielmehr überlegte ich mir, wann ich mich auf die Suche nach meinem Geliebten begeben sollte. Nach einem Jahr verwendete ich die Magie, die Geraldine mich gelehrt hatte, um von ihm zu träumen, denn ich wusste, dass die Zeit langsam knapp wurde. Wie gut er aussah - mit den klassischen, starken Gesichtszügen, als hätte ein Künstler aus dem alten Rom sie gemeißelt -, wie mutig und edel. Bei seinem Anblick hatte ich die größte Mühe, nicht vor Freude zu weinen. Er stand an einer Kreuzung vor zwei Männern, die ich beide schon einmal in der Nacht meiner Weihe gesehen hatte. Bei dem einen handelte es sich um den von einem Schatten verhüllten Magier, der meinem Geliebten mit seiner großen, dicken Hand den Weg versperrte, um ihn aufzuhalten. Der andere war ein Ritter, dessen Gesichtszüge und Haarfarbe denen meines Geliebten glichen. Er hatte eine Hand ausgestreckt, um seine Hilfe und Führung anzubieten. Edouard, rief ich ihm zu, denn ich wusste, er diente meinem Geliebten, so wie Mutter Geraldine mir gedient hatte.
    Helft ihm, Herrin, sagte Edouard und deutete auf seinen Schutzbefohlenen. Ich bin nur ein Lehrer, ich verfüge nicht über Eure Macht, ihm zu helfen. Seht, er schwankt auf dem Pfad ...
    Ich wandte mich dem Mann zu, den ich über alles liebte, rief ihn beim Namen, und er drehte sich mit einem derart ergebenen Blick, mit einer solchen Entschlossenheit zu mir um, dass ich kaum sprechen konnte. Doch ihm zuliebe sammelte ich mich, fand meine Stimme wieder und sagte: Das Schicksal ist ein Spinnennetz. Bei unserer Geburt stehen wir in der Mitte und sehen hundert Pfade vor uns, die strahlenförmig von uns fortführen. Unsere wahre Bestimmung liegt am Ende nur eines einzigen Pfades. Anfangs mag es sein, dass wir nicht den richtigen Kurs einschlagen oder andere sich einmischen, um uns abzulenken, doch wir haben immer die Möglichkeit, stehen zu bleiben und stattdessen über eine der vielen Querverbindungen zum wahren ff ad zu finden. Es ist möglich, über hundert falsche Pfade zu irren, und dann am Ende unseres Lebens von einem seidenen Strang zum nächsten zu wechseln, um schließlich an unserer eigentlichen Bestimmung anzulangen.
    Hörte er mich? Ich vermochte es nicht zu sagen. Als ich wieder zu mir kam, beschlich mich eine unheilvolle Ahnung. Etwas fehlte: Der Feind hatte Jahre damit zugebracht, eine Falle aufzustellen, in die mein Geliebter schließlich laufen sollte.
    Sogleich richtete ich mein Zweites Gesicht auf die Quelle der bevorstehenden Gefahr: Ich sehe den Feind in seiner prächtigen, von Weihrauchdunst geschwängerten Kammer unter dem starren Blick der Götter sitzen. In einer Hand hält er eine gesunde junge Ratte mit schneeweißem Fell und einem nackten rosa Schwanz. Sie rührt sich nicht und atmet in tiefen Zügen. Die schwarzen Pupillen in ihren winzigen Augen heben sich groß vor den dünnen Kreisen ihrer rosafarbenen Iris ab. Es hat den Anschein, als stünde sie im Bann einer Schlange.
    Und tatsächlich schlägt Domenico mit der Gewandtheit einer Natter zu. Er nimmt den Schwanz der Ratte zwischen Daumen und Zeigefinger, hebt sie daran hoch über den Altar aus Onyx und den Salzkreis. Sofort fällt die Erstarrung von der Ratte ab, und sie setzt sich tapfer zur Wehr, beugt den Kopf auf die Brust, rollt sich ein und versucht, nach oben zu kriechen, sie tastet nach den

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