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Kalogridis, Jeanne - Die Seherin von Avignon

Kalogridis, Jeanne - Die Seherin von Avignon

Titel: Kalogridis, Jeanne - Die Seherin von Avignon Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Unbekannter Autor
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Hinterbeinen, dem Schwanz und der Hand, die ihn hält. Tastet nach einem Ansatzpunkt, den sie nicht finden kann, die rosa Beinchen strampeln heftig, durchsichtige Krallen schlagen in die Luft.
    Nun holt der Magier ein frisch geschliffenes Rasiermesser aus der Tasche. In dem Augenblick, als das kleine Tier sich abrollt und den Rücken durchbiegt, um nach einer Fluchtmöglichkeit zu suchen, zieht er einen festen Schnitt quer über die Brust der Ratte. Um die Lippen des Magiers zuckt es fast unmerklich, als er dabei auf einen Widerstand, auf die zarten Knochen stößt.
    Blut ergießt sich in den Kreis aus Salz. Die hängende Ratte windet sich heftig, wodurch sich die Wunde nur noch weiter öffnet. Der Schnitt ist tief, sehr tief. Die Rippen sind durchtrennt, und ich kann das Herz sehen. Ich kann das noch schlagende Herz der Ratte sehen. Während ich zuschaue, pocht das winzige rote Organ langsam, immer langsamer, bis es schließlich zum letzten Mal erschaudert und sich nicht mehr rührt ...
    Ich fuhr bei vollem Bewusstsein in die Höhe.
    Mein Herz schlug schmerzvoll, und ich keuchte, eine Hand auf der Brust: »Luc ...«
    Das war genau zu der Zeit, als der Schwarze Prinz mit seinen Vandalen und Straßenräubern nach Südosten marschierte (so wie der Normanne es gesagt hatte), zuerst nach Narbonne und an das Meer, dann wieder zurück nach Norden auf Bordeaux zu, beladen mit all dem Gold, den Juwelen, Wandteppichen und anderen Reichtümern, die sie den wohlhabenden Franzosen gestohlen hatten. In den darauf folgenden Monaten reihte sich im Norden ein Scharmützel an das andere, und der Vater des Schwarzen Prinzen, Edward III., landete mit Invasionstruppen in Calais, wurde aber sogleich von der treuen Armee Jeans des Guten wieder nach England vertrieben.
    All das geschah, bevor Jean der Gute voreilig Charles de Navarre ins Gefängnis sperrte, ein Mitglied des normannischen Adels, den der König der Verschwörung mit Edward bezichtigte.
    Jean ließ alle Güter Navarres beschlagnahmen und die aufgebrachten Normannen ersuchten daraufhin den englischen König noch einmal um Hilfe. So voreilig Jeans Aktion auch gewesen sein mag, er war verschlagen genug, die Konsequenzen vorauszusehen. Im Frühling des Jahres 1356 erließ er den Heerbann, dem zufolge alle königstreuen Franzosen dazu aufgerufen waren, nach den Waffen zu greifen.
    Der König hatte die Lage richtig eingeschätzt: Im Hochsommer landete eine zweite Armee der Engländer, angeführt vom Duke of Lancaster, hoch im Norden bei Cherbourg und machte sich auf den Weg in die Bretagne. Zur selben Zeit brach der Schwarze Prinz mit achttausend Soldaten von Bordeaux zu einem weiteren Raubzug auf, diesmal nach Norden.
    Unser Jean der Gute hatte inzwischen eine doppelt so starke Armee aufgestellt, und als sich der Sommer seinem Ende zuneigte, machte sich der König in Begleitung seiner vier Söhne und seiner Mannen auf, Edward zu verfolgen. Von diesen Ereignissen erfuhr ich auf ganz verschiedenen Wegen - von Reisenden, von Leuten aus dem Ort und mit Hilfe des Zweiten Gesichts.
    Während ich noch mit dem Grauen meiner schrecklichen Vision vom Magier kämpfte, wurde mir bewusst, dass die Göttin sehr deutlich zu mir gesprochen hatte. Der bevorstehende Krieg bedrohte nicht nur das Schicksal Frankreichs, sondern die Existenz unseres gesamten Geschlechts. Das Leben meines Geliebten, seine Zukunft, war ebenfalls in Gefahr.
    Geraldine schlief friedlich neben mir auf dem Korridor des Krankenflügels, den Mund leicht geöffnet, den Kopf auf einen Stein gebettet. Bis zur Morgendämmerung waren es noch einige Stunden, doch der Mond verströmte sein helles Licht, und so stand ich auf und kroch zur früheren Äbtissin.
    Die anderen Schwestern neben uns schliefen tief und fest. Ich hätte meine Lehrerin wecken sollen. Ich vermochte die Gefahr, die meinen Geliebten bedrohte, nicht klar zu erkennen, mein Zweites Gesicht ermöglichte mir keine deutliche Vision. Doch mein Herz schlug laut wie die Glocken einer Kathedrale vor Ausbruch eines Krieges: Eine Katastrophe steht bevor, ein Verhängnis, die Ausrottung des Geschlechts. Ich konnte nicht bleiben und zulassen, dass Luc all dem allein ausgesetzt war.
    Ich weiß, ich war für diese Aufgabe noch nicht genügend vorbereitet, schließlich hatte ich mich meiner größten Furcht noch nicht gestellt. Wie Achilles zog ich in den Kampf.
    Leise stahl ich mich von den schlafenden Frauen fort. Ich packte eine kleine Wegzehrung und eine Decke ein, dann

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