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Kalogridis, Jeanne - Die Seherin von Avignon

Kalogridis, Jeanne - Die Seherin von Avignon

Titel: Kalogridis, Jeanne - Die Seherin von Avignon Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Unbekannter Autor
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zwanzig Männer waren gewöhnliche Engländer, doch dann kamen wir an einer anderen Gruppe vorbei.
    Plötzlich gewahrte ich eine gewisse Unruhe in unserem schützenden Kreis: Magdeleine ereiferte sich mit einmal fürchterlich.
    »Franzosen!«, rief sie aufgebracht und zeigte auf ihre Helme, Schwerter und Banner. »Seht sie nur an: Verräter, allesamt!«
    »Seht«, mahnte Geraldine und griff noch nach ihr, doch es war zu spät:
    Der Soldat, der uns am nächsten lag, bewegte sich, dann ein zweiter.
    »Sieh an«, sagte der erste, ein dünner Mann mit langen Gliedern und ebenso dünnem blonden Bart. Sein Akzent kennzeichnete ihn als einen Adligen aus der Normandie. »Was haben wir denn da? Die Damen haben offensichtlich beschlossen, sich zu zeigen.« Seine Stimme klang rau und matt, wie die eines Mannes, der gezwungen worden war, seine körperlichen Grenzen bei weitem zu überschreiten, eines Mannes, der schon zu viele Grausamkeiten gesehen und begangen hat.
    Inzwischen hatte er sich aus mindestens drei Decken gewickelt und ein fein geschmiedetes Schwert mit einem goldenen, gravierten Griff gepackt. Die Männer um ihn herum hatten es ihm gleichgetan. Sie alle besaßen wertvolle Schwerter und trugen Unterkleidung aus feiner Wolle. Sie alle hatten dasselbe ironische Lächeln wie ihr Kommandeur aufgesetzt. Und sie alle stammten aus Nordfrankreich.
    Die Wut verdrängte jegliche Furcht aus Magdeleines Herzen. Kühn trat sie einen Schritt auf den blonden Normannen zu und schimpfte: »Das seid Ihr also - Franzosen, die ihre eigenen Landsleute umbringen! So etwas würde kein echter Ritter tun!«
    Der Normanne kam sofort auf Magdeleine zu. Er hatte sein Schwert locker in der rechten Hand gehalten, doch jetzt wurde sein Griff fester, und die Muskeln in seinem Arm spannten sich. Mit einer unglaublich raschen Bewegung riss er das Schwert hoch und wollte zum Schlag ausholen.
    »Nein«, sagte Mutter Geraldine entschlossen, wobei ihre Stimme weder ängstlich noch zornerfüllt klang. Entsetzt sahen wir zu, wie die Äbtissin zwischen Magdeleine und ihren Angreifer trat. Der Normanne ließ sein Schwert mit aller Kraft herniedersausen. Es wurde still, so still, dass man den Stoff reißen hörte, als die Klinge Geraldines Wollhabit zerschnitt und mit derselben Leichtigkeit das Fleisch oberhalb ihrer Brust durchbohrte. Als die Ehrwürdige Mutter das Gleichgewicht verlor und auf den Soldaten zutaumelte, trieb er die Klinge tief in sie hinein.
    Dann trat er zurück, und Geraldine fiel nach vorn, die Waffe durchdrang sie bis zum Griff, sodass der größere Teil der Klinge direkt unterhalb ihrer rechten Schulter aus ihrem Rücken ragte.
    »Noch jemand?«, erkundigte sich der Normanne erschreckend fröhlich.
    Magdeleine fiel schluchzend auf die Knie und presste sich Geraldines schlaffe, erhobene Faust an die Lippen. Wir anderen weinten lautlos.
    Doch der Kommandeur hatte noch nicht genug. Er riss Magdeleine am Ellenbogen auf die Beine. Obwohl sie sich heftig wehrte, gelang es ihm, ihr den Schleier und die Haube herunterzuziehen und die kurz geschorenen, blonden Locken bloßzulegen.
    »Dein Glück, dass du hübsch bist«, sagte er. »Dafür darfst du noch einen Tag oder länger leben und mir ein wenig Gesellschaft leisten ...
    Ich habe in meinem Leben oft Momente erlebt, in denen die Zeit langsamer vergeht - das hier war so einer. Gewiss empfand ich Mitgefühl und Kummer beim Anblick der schwer verletzten Geraldine, doch das Ganze kam mir auch merkwürdig richtig vor. Alles war so, wie die Göttin es wollte. Daher rief ich mit wachsender Freude und mit einer Autorität, die weitaus größer war als meine eigene, dem Normannen zu: »»Lass sie los.«
    In meinen Worten lag weder Wut noch Kummer noch Hass, nur Gerechtigkeit.
    Da geschah etwas Seltsames: Mit einer Hand hielt der Normanne Magdeleine gefasst und drehte sich zu mir um. Doch dann hielt er inne und schaute mit verblüffter Miene ins Leere.
    »Lass sie los«, wiederholte ich, woraufhin er noch verwirrter den Kopf zur Seite neigte. Seinen Männern war das satyrhafte, anzügliche Gelächter vergangen, und sie schauten ähnlich überrascht in meine Richtung. Ich lachte laut auf, als mir die Erkenntnis meiner Macht kam.
    Der Kommandeur riss die Augen weit auf, und seine Haut wurde blasser als sein dürrer Bart. Zerstreut ließ er Magdeleine los, die mich mit offenem Mund anstarrte und ehrfürchtig auf die Knie sank.
    »Heilige Mutter Gottes«, seufzte der Normanne und tat es ihr nach. Die

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