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Kalogridis, Jeanne - Die Seherin von Avignon

Kalogridis, Jeanne - Die Seherin von Avignon

Titel: Kalogridis, Jeanne - Die Seherin von Avignon Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Unbekannter Autor
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bestieg ich ein ausdauerndes Pferd.
    All jenen, die nicht mit dem Zweiten Gesicht gesegnet sind, muss mein Tun gewiss verrückt vorgekommen sein. Ich war eine unbewaffnete Frau, die am Vorabend eines Krieges in der Dunkelheit auf zwei Armeen zuritt. Wie sollte ich mich davor schützen, fälschlicherweise für einen Feind oder Spion gehalten zu werden? Wie sollte ich mich davor schützen, umgebracht zu werden? Und wie sollte ich schließlich das Pferd davor bewahren, in der Dunkelheit zu stolpern und sich zu verletzen?
    Damals blieb mir keine Zeit für solch nebensächliche Sorgen.
    Ich war spät dran.
    Vielleicht würde ich sogar zu spät kommen. Und meine magischen Kräfte reichten noch nicht aus...
Teil V
XIV
    Zwei Tage und Nächte trieb ich mein tapferes, unermüdliches Ross voran. Aus Argwohn vor englischen Soldaten mied ich die Provinz Aquitaine, ebenso die Garonne und hielt mich stattdessen an die Berge im Osten. Von dort wandte ich mich nach Norden, vorbei an Limoges. Am dritten Tag erreichte ich kurz vor Morgengrauen Poitiers. Von den Stadttoren ritt ich hinab zum Wiesengrund, wo die Armee lag. Die Strecke war kurz, doch kam es mir vor, als ob die Dunkelheit der Nacht mit jedem Schritt meines Pferdes wich und immer grauer wurde. Zugleich bildete sich schwerer Nebel, der das Land verhüllte und sich in kühlen, feinen Tröpfchen auf mein Habit und mein Gesicht legte. Die Zeit kurz vor dem Morgengrauen war für mich immer die ruhigste gewesen, wenn die ganze Natur in Stille verharrt. Doch dann, als ich den Bereich der Stadtmauern von Poitiers verließ, schien die Luft zu erzittern.
    Die beiden Armeen hatten kein Geheimnis aus ihrer Anwesenheit gemacht. Obwohl der Nebel einen Großteil des Lärms verschluckte, konnte ich zu beiden Seiten das Schnauben und erregte Stampfen von Streitrössern hören, die Stimmen von Männern, die nach Ruhm gierten und zu selbstgefällig waren, an ihren eigenen Tod zu glauben, und das Klirren von Rüstungen und Waffen, die für den Kampf gerichtet wurden.
    Es roch auch nach Männern, denn sie befanden sich bereits seit drei Tagen im Lager, während derer die päpstlichen Gesandten vergebens für einen Waffenstillstand plädiert hatten. Als ich mich den Latrinen näherte, wurde der Geruch stärker, begleitet vom ebenfalls durchdringenden Gestank der Jauchegruben.
    Fünfundzwanzigtausend Mannen waren versammelt worden, um sich gegenseitig auf einem Feld niederzumetzeln, das kleiner war als das Weizenfeld meines Vaters. Aber an jenem Tag herrschte auch Krieg zwischen dem Magier und mir, und nur einer von uns beiden würde siegreich daraus hervorgehen.
    Ich war nicht allein, er beobachtete mich. Ich wusste es. Und er wusste ebenso wie ich, dass mein Schutz unvollkommen war. Die Furcht um meinen Geliebten hatte mich verwundbar gemacht, lenkte mich ab. Meine Gedanken weilten bei ihm, nicht bei mir und meiner Aufgabe. Ich folgte dem Lärm und den Gerüchen und bahnte mir einen Weg zwischen Apfelbäumen hindurch. Im dichter werdenden Nebel wirkten die Bäume wie verzerrte Gespenster. Schwarze Äste griffen nach mir, als ich vorüberritt.
    Hinter dem Obstgarten lag offenes Weideland und dahinter, verborgen in wabernden, tief hängenden Wolken, erblickte ich die gespenstischen Silhouetten von Männern auf Pferden. Zunächst dachte ich, ein Dutzend Reiter habe sich aufgestellt, bis ich nahe genug herangekommen war, um zu erkennen, dass mich der Nebel genarrt hatte. Denn die Reihe der Männer erstreckte sich zu meiner Rechten und Linken weiter, als mein Auge reichte, und hinter jedem Reiter standen noch mehrere Mannen Fußvolk, deren Zahl sich ins Unendliche zu erstreckten schien. Sie schauten nach links, wo ihr Feind in Stellung lag. Das Bild meines Geliebten vor Augen, holte ich tief Luft und ritt weiter ins offene Gelände auf die Soldaten zu. Ich wusste, welche Aufgabe ich an jenem Tag bewältigen musste, doch der Feind war nah, sehr nah. Meine Gabe konnte ich nur zeitweise und mit Einschränkungen einsetzen. Lediglich mein Herz war seiner Sache gewiss.
    Das erste Tageslicht drang in Streifen durch den Nebel, und als ich mich den Soldaten von der Flanke her näherte, schimmerte es in lebendigen Farben. Aus Schwarz wurde Scharlachrot, aus Grau wurde Blau, aus Weiß ein strahlendes Gelb - die Farben der leuchtenden, wehenden Banner. Überall entdeckte ich Adlige in kostbaren Rüstungen, die Helme reich mit Federn geschmückt, die Umhänge und Banner mit dem Familienwappen verziert. Ich sah

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