Kalogridis, Jeanne - Die Seherin von Avignon
verleihen. Doch aus unserem Geschlecht werdet nur ihr beide eine solche Vielzahl von Gaben besitzen und somit werdet ihr die Mächtigsten sein.«
Er schwieg eine Weile, während sich sein Blick in der Ferne verlor. »Das muss in jeder Generation geschehen. So hat es vor mehr als tausend Jahren eine Gruppe von Mystikern im Heiligen Land prophezeit: Zwei Erlöser würden erscheinen, königlich der eine, priesterlich die andere, und gemeinsam würden sie ihr Volk retten. Wegen dieser Blasphemie wurden die Mystiker in die Wüste gejagt, wo sie und ihre Nachfolger sich Jahrhunderte lang versteckten. Du, Luc, bist der König. Und nun musst du deine Priesterin finden, die Seherin. So soll es in jeder Generation sein.« Luc hörte ihm nur mit halbem Ohr zu, denn bei dem Gedanken daran, das Mädchen wiederzusehen, zitterte er. »Rebbe ... Wann kann ich ... Wann werden wir beide uns treffen?«
Jakob schüttelte nachdenklich den Kopf. »Das weiß ich nicht. Aber ich kann dir so viel sagen ...« Er drehte sich um und zeigte auf das Bild, das Luc von den verschiedenfarbigen Sphären der Macht gezeichnet hatte und auf dem sie der Reihe nach angeordnet waren. »Hier, ganz oben, ist Kether, das weiße Licht, das strahlend Göttliche, die Krone.
Und hier ...«, er fuhr mit dem Finger wie ein Blitz im Zickzack von Sphäre zu Sphäre abwärts, »... ganz unten ist Malkuth, die Königin, die das Reich der Erde beherrscht. Siehst du? Das ist der Pfad, dem der Bräutigam folgen muss, um seine Braut zu finden. Er muss viele Hindernisse überwinden, bevor er die Wonne, die Macht der Göttlichen Vereinigung erfährt ...«
Plötzlich war es Luc, als würde sein Herz zerspringen, und zum ersten Mal begriff er die Unruhe, die ihn getrieben hatte, das Gefühl der Leere selbst in Gesellschaft derer, die er liebte. »Wie kann ich warten?«, flüsterte er, den Tränen nahe. »Wie lange werde ich noch von ihr getrennt sein?« Jakob antwortete mit einem zärtlichen Ausdruck des Mitleids auf seinem runzligen Gesicht: »Du muss in dein Herz schauen und die größte Furcht, die dort verborgen ist, überwinden. Die Furcht, die dein Feind gegen dich richten kann, die dir die Kraft und deiner Magie die Macht raubt. Nur dann ist es für dich und deine Geliebte sicher, euch zu vereinigen.«
»Sagt mir, was ich tun soll, und ich werde es tun«, forderte Luc beherzt.
»Es steht mir nicht zu, deine Furcht zu benennen. Du musst sie allein entdecken. Ich vermag nur zu helfen, soweit man mich gebeten hat. Ich kann dir die Geliebte nicht näher bringen, doch ich darf dir einen kleinen Vorgeschmack des Göttlichen geben, das dich erwartet. Lass dir dieses Wissen als Balsam für die Seele dienen.«
Jakob erhob sich und trat hinter Luc, der auf einem wackeligen alten Hocker saß. Er legte seine großen Hände, die in abgetragenen Wollhandschuhen steckten, aus denen die eisigen Fingerspitzen herausschauten, auf die Schultern des Jungen und begann zu singen. Seine Stimme tönte so kräftig und voll, dass jedes einzelne Teilchen in der Luft mitzuschwingen schien:
Atoh ... (Ich bin)
Malkuth ... (das Königreich)
VeGeburah ... (die Macht)
VeGedulab ... (und die Herrlichkeit)
LeOlahm ... (in Ewigkeit)
Amen ...
Luc schloss die Augen und fiel in den Gesang des Rabbi ein, denn das hatte er seit Monaten geübt, und er war sicher, sich das Licht vorstellen zu können, das in farbigen Sphären durch seinen Körper und sein Wesen strömte. Er spürte, wie es golden in seinem Herzen erblühte, seine Füße fest im Boden verankerte und ihn ganz in seinen Glanz einhüllte. Nur zu gut kannte er das Gefühl, das folgen würde - das Gefühl absoluten Friedens und großer Klarheit. Doch in jener Nacht übertraf die Empfindung, die ihn erfüllte, alles, was er je zuvor erfahren hatte, und eine tiefe Demut überkam ihn.
Beim Wort Malkuth wurden Jakobs kalte, knochige Hände plötzlich warm, dann noch wärmer, und eine Macht wie von einem Blitz fuhr durch sie hindurch, raubte ihm beinahe den Verstand, sodass Luc sich seiner Umgebung und Jakobs Anwesenheit nicht mehr bewusst war. Ihm war in diesem Augenblick zumute, als sei er blind gewesen, habe im Schatten gelebt und vermochte erst jetzt wirklich zu sehen, das Licht zu sehen, nein, selbst Licht zu werden, in all seiner Pracht und Herrlichkeit. In seinem Glanz gab es keine Grenzen mehr, kein Leben, keinen Tod, keine Zeit, auch keinen Luc, Edouard, Jakob, keinen Papa, keine Maman, keine Kirche, keine Magie, keine Tora ...
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