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Kalogridis, Jeanne - Die Seherin von Avignon

Kalogridis, Jeanne - Die Seherin von Avignon

Titel: Kalogridis, Jeanne - Die Seherin von Avignon Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Unbekannter Autor
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Neffe, aber noch musst du selbst lernen, auf diese Stimme zu hören.« Wieder legte er die Hand auf Lucs Schulter und sagte: »Setz dich. Ich sehe, die Zeit ist reif.«
    »Wofür?«, fragte Luc, doch Edouard verschwand, ohne ihm zu antworten, in seine Gemächer. Als er zurückkehrte, trug er eine winzige Flasche in den Händen, nicht größer als jene, in denen Frauen ihre kostbarsten Parfüms aufbewahren. Sie enthielt eine dunkle, unheimlich wirkende Flüssigkeit. Luc schaute zu, wie sein Onkel voller Ehrerbietung und Ernst vorsichtig genau zwei Tropfen davon, nicht mehr, in seinen Wein schüttete.
    »Trink das«, sagte Edouard.
    »Was ist das?«, flüsterte Luc, plötzlich von Ehrfurcht ergriffen.
    Aber Edouard erwiderte nur: »Trink ...«
    Luc trank. Es schmeckte äußerst bitter, geradezu ekelhaft, aber nach einigen unbehaglichen Momenten des Schweigens, während Edouard ihn genau beobachtete, vergaß Luc den unangenehmen Geschmack und schaute stattdessen fasziniert auf die Steine des Kamins, die schlaff herabzuhängen schienen wie welkende Blumen in der Sommerhitze.
    Er öffnete den Mund, wollte mitteilen, was er sah, fand jedoch keine Worte. Da war er nun, die Stimme Gottes, unfähig, zu sprechen. Das kam ihm so komisch vor, dass er in ein unhaltbares Gelächter ausbrach, ja, er lachte so lange, bis ihm die Tränen kamen und er fast vom Stuhl kippte.
    Edouard fing ihn auf und half ihm hoch. Luc war unsicher auf den Beinen und konnte kaum laufen. Er stützte sich schwer auf seinen Onkel und ließ sich von ihm in dessen Gemächer führen, wo er zutiefst dankbar auf das große Bett sank.
    »Ver ... zeiht ... mir...«, stammelte er kichernd, konnte jedoch keine weitere Erklärung abgeben. Doch sein lächelnder Onkel schien ihn zu verstehen. »Lach, so viel du willst, Luc, so soll es sein. Ich habe die Diener fortgeschickt, und niemand außer mir wird dich hören. Vergiss nicht, ich bin in deiner Nähe und werde dich nicht allein lassen. Wenn du Hilfe brauchst, ruf mich.« Damit verschwand er und schloss die Tür zum Schlafgemach hinter sich.
    Luc erlitt einen neuen Lachanfall, denn obwohl er Edouards Worte vernommen hatte, ergaben sie wenig Sinn für ihn. Überhaupt ergab das alles keinen Sinn: dass er, ein normaler junger Mann vom Stand der Heiligkeit weit entfernt, dazu auserwählt sein sollte, das Geschlecht anzuführen, ein Lehrer zu sein, ja, sogar die Stimme Gottes.
    Er war kein heiliger Messias, und gewiss war der gute, weise Edouard viel geeigneter für die Aufgabe, oder der verstorbene, gesegnete Jakob ...
    Lucs Freude schlug mit einem Mal in Kummer um. Edouard hatte Recht gehabt: Sein Stolz hatte ihn zu dem Glauben verleitet, er sei reif, seine Geliebte zu finden und gegen den Feind zu kämpfen, doch seine Ungeduld hatte ihn erst recht verwundbar gemacht. Er hatte sich vom Studium der Magie dermaßen einfangen lassen, dass er schon seit Jahren nicht mehr mit der Stimme gesprochen und fast vergessen hatte, wie es war, in Seiner Gegenwart zu leben...
    Du wirst dich schon sehr bald daran erinnern, sagte eine Stimme. Die Zeit wird wiederkehren, da die Stimme zu dir spricht.
    Rasch richtete Luc sich auf, alle Mattigkeit war von ihm gewichen, und seine Gliedmaßen gehorchten ihm wieder. Allein, unter seinen Händen spürte er nicht mehr den schweren Brokat auf Edouards Bett, sondern trockene, knisternde Blätter und kalte Erde. Vor ihm brannte ein Feuer, und gegenüber, auf der anderen Seite, beugte sich Jakob über die Flammen und rieb sich wärmend die knochigen Hände. Den Bart hatte er in sein Gewand gesteckt, damit er nicht Feuer fing. Sie waren mitten in einem großen, dunklen Wald.
    »»Jakob«, flüsterte Luc, während ihm die Tränen heiß über die Wangen liefen. »Ihr lebt.«
    »Mehr als das«, erwiderte der Rebbe, seine gelblichen Zähne entblößend.
    »Ich fühle mich so weit entfernt von Seiner Gegenwart«, sagte Luc. »Ich ... Ich will Gott gefallen, und ich will sie finden, aber irgendetwas hält mich von ihr fern, von meiner Weihe. Ich habe die Kunst der Magie gelernt, damit ich von Nutzen sein kann, habe daran gearbeitet, gegen Schmerz unempfindlich zu werden. Ich weiß nicht, was ich noch tun soll ...«
    Jakob nickte, was den Jungen tröstete. Dann hob der alte Mann den Kopf, um Luc genauer zu betrachten. »Du hast Tricks gelernt wie jeder gewöhnliche Zauberer. Talismane und Rituale sind nur die äußerlichen Requisiten, dazu bestimmt, uns zur eigentlichen, zur mächtigsten Magie zu

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