Kalogridis, Jeanne - Die Seherin von Avignon
Einzig und allein eine riesige, allumfassende Freude, die keinen Kummer kannte.
Und die Stimme sprach. »»Jakob, du sollst unseren Talisman in das Dorf bringen, wo unsere Geliebte wohnt. Auch der Tod haust dort, doch ein größeres Leben wird folgen, und der größte Lohn.«
Die Worte kamen aus ihm, doch seine Wonne war so groß, dass Luc ihnen keinerlei Beachtung schenkte. Eine Stunde lang verharrte er in jenem wortlosen Zustand, vielleicht einen Tag, ein Jahr, ein Leben, einen einzigen Herzschlag lang. Er hätte es nicht zu sagen gewusst. Doch als er schließlich wieder zu sich kam, kniete Jakob mit gesenktem Haupt auf dem Boden. Und als der Rebbe den Kopf hob und seinen Schüler anschaute, sah Luc in seinem Gesicht den Widerschein von Gottes Glanz. Sogleich glitt Luc vom Hocker und half seinem alten Lehrer auf die Beine. »Nicht vor mir! Rebbe, Ihr dürft nicht vor mir knien!«
»Ich knie vor dem, was in Euch ist«, antwortete Jakob lächelnd. »Ihr habt die Regeln der Magie gut gelernt, mein Herr. Eure Herrin wird darin wohnen, in der Nähe des Göttlichen. Sie ist Euer Herz, Luc, und wenn die Zeit gekommen ist, dass sie Euch weiht, werdet Ihr gemeinsam die Gegenwart des Göttlichen schauen. Nun, wie sollen wir sie ermessen? Wie sie benennen? Gott, Zeus, Adonai, Allah? Oder Göttin, Shekinah, Isis, Athena? Wie sollen wir sie anbeten, sie erfreuen?«
Der Junge gab ihm die einzig mögliche Antwort, zunächst ein Kichern, dann ein volles, herzhaftes Lachen, das von den eisigen Fensterläden widerhallte und die Kerzenflamme flackern ließ. In jener Nacht lachten sie gemeinsam in Jakobs kaltem, kleinem Arbeitszimmer, während sich draußen leise der Schnee sammelte wie die Kräfte des nahenden Unheils.
Fest entschlossen, alle Furcht zu überwinden und stark genug zu werden für seine Geliebte, übte Luc täglich die Rituale. Insgeheim begann er damit seine Stärke zu erproben und hielt den Finger in eine Flamme. Zunächst nur für einen Augenblick, dann länger, bis er schließlich, ohne mit der Wimper zu zucken, die Handfläche über das Feuer strecken und zuschauen konnte, wie die Flamme an seiner Haut leckte. Jedes Mal zog er seine Hand gesund und ohne Blasen wieder zurück.
Desgleichen stahl er einer der Kammerzofen eine Spindel und leerte seinen Geist, bis die Spitze, die in seine Haut eindrang, weder Blut noch Schmerz hervorrief. Nach einiger Zeit verursachte selbst ein Jagdmesser keine blutende Wunde mehr.
Im darauf folgenden Sommer kam die Pest. Von zu Hause erreichte Luc die Nachricht, Nana sei gestorben und sein Vater ernsthaft erkrankt, er habe sich allerdings bereits wieder erholt. Erstaunlicherweise - oder vielleicht infolge der Macht, die von Lucs Talismanen und Amuletten ausging - wurde auf Edouards Anwesen niemand krank, weder ein Diener noch einer der Ritter des Haushalts. Doch in der Stadt wütete die Pest, und sosehr Luc auch betteln mochte, Edouard untersagte seinem Neffen jeden weiteren Besuch bei Jakob.
Nachdem das Schlimmste überstanden war, kam Edouard in Lucs Zimmer und sagte sanft: »Lieber Neffe, ich habe sehr traurige Neuigkeiten für dich. Man hat das Judenviertel niedergebrannt.«
Der Junge weigerte sich, es zu glauben, und ritt hinaus zu der Stelle, an der Jakobs Haus gestanden hatte. Weinend kniete er sich in die Asche. Selbst dann noch sagte er sich: Unmöglich. Das Siegel Salomos hätte ihn gerettet. Er ist entkommen. Er lebt und wird zurückkehren ... Doch tief in seinem Herzen wusste er, dass sein geliebter Rebbe tot war.
In den folgenden Jahren wurde Luc ein Knappe Edouards, dann ein Ritter aus eigenem Recht, kämpfte in Scharmützeln gegen den Schwarzen Prinzen und erwarb sich den Ruf, ein ebenso erfahrener Krieger wie Vater und Onkel zu sein. Oft träumte er auch von dem Mädchen, obwohl er nie ein klares Bild vor sich sah, nur das der Fünfjährigen mit dem schwarzen Zopf. Doch er wusste, dass Edouard regelmäßig sein Zweites Gesicht übte, und wenn sie unter vier Augen waren, fragte Luc: »Was habt Ihr von ihr gesehen? Wo ist sie, und was macht sie?«
Edouard offenbarte ihm nur Andeutungen, verriet keine Einzelheiten: »Sie ist jetzt eine hübsche Frau.« Oder: »Sie ist keine Adlige.« Doch er nannte ihm nie die Stadt, in der sie lebte, oder erwähnte ihre Lebensumstände. »Sagt mir doch nur, wo sie ist«, bat Luc immer wieder, aber Edouard schüttelte den Kopf.
»Du bist noch nicht stark genug, Luc.«
»Doch«, beharrte er eines Tages, denn seine Geduld war
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