Kalogridis, Jeanne - Die Seherin von Avignon
am Ende. Er saß mit Edouard gemeinsam beim Abendessen in dessen Zimmer. »Zweites Gesicht hin oder her, meine Magie ist so stark wie Eure.« Er stellte seinen Kelch ab, ließ den Kopf sinken und bemühte sich, seinen Zorn zu unterdrücken. »Verzeiht, Onkel. Doch das geht nun schon Jahre so, und das Warten ist qualvoll. Warum kann ich mich nicht einfach zu ihr auf den Weg machen?« »Zwei Dinge sind notwendig für deine Sicherheit und für ihre. Zunächst darfst du deine Mutter nie wieder sehen. Gib alle Hoffnung auf ihre Heilung auf und nimm hin, dass sie für uns verloren ist.« Edouards Stimme war freundlich, und um seinen Worten die Härte zu nehmen, legte er seinem Neffen die Hand auf die Schulter. Luc holte zitternd Luft. »Wie kann ich ... Wie könnt Ihr das von mir verlangen? Ihr selbst habt mir von Mutters Opfer erzählt. Sie hat das Böse, das für mich gedacht war, auf sich genommen. Und Ihr wollt, dass ich sie im Stich lasse, obwohl sie ihre geistige Gesundheit für mich geopfert hat?«
»Ja«, sagte Edouard grimmig. »Auch sie würde es dir befehlen, tapfer wie sie ist ... war. Du und dein Vater ... ihr seid auf astraler Ebene mit ihr verbunden, sodass sie in deiner Gegenwart, in deinem Herzen und deinem Geist lesen kann. Weil sie aber zugleich mit deinem Feind verbunden ist, würde er ihr Wissen teilen. Ich war einst auf diese Weise mit ihr verbunden. Glaubst du, es ist leicht für mich, Luc? Wir teilten den Leib unserer Mutter, niemand war ihr näher als ich, niemand kannte ihre Gedanken besser, nicht einmal dein Vater. Doch ich durchtrennte die Verbindung, trennte sie, obwohl es mir das Herz brach. Und ich werde sie nie wieder sehen, denn wenn ich es täte, könnten meine Gefühle erwachen, und damit würde ich dem Feind die Möglichkeit geben, meine Sehergabe zu benutzen.
Begreifst du die Gefahr, Luc? Gehst du aber zu deiner Herrin und empfängst die Weihe, ohne dich körperlich, seelisch und in deinen Gefühlen von deiner Mutter gelöst zu haben, bringst du auch sie in Gefahr. Ich habe versucht, dich hier so gut wie möglich zu schützen. Wenn du weit von ihr entfernt bist, kann sie dir weniger schaden. Ich hatte
gehofft, Zeit und Entfernung würden deine Verbindung zu Beatrice lockern, doch sie ist stark geblieben.«
»Ich kann nicht«, flüsterte Luc verlegen, weil Tränen ihm die Kehle zuschnürten.
»Es gibt noch etwas viel Wichtigeres«, fuhr Edouard fort. »Du musst deine größte Furcht erkennen und sie besiegen. Hast du dies beides vollendet, kann der Feind dir nichts mehr anhaben.«
Luc, der plötzlich wieder Hoffnung schöpfte, hob den Kopf und sprang eifrig von seinem Hocker. »Aber ich habe doch meine Furcht besiegt, Onkel. Ich habe keine Angst mehr vor Schmerzen, nicht einmal vor dem Tod. Seht nur!«
Nach einem Moment der Konzentration trat er an den Kamin und streckte seinen rechten Arm in die Flammen. Rasch machte Edouard ein paar Schritte auf seinen Neffen zu, beruhigte sich aber sogleich, als deutlich wurde, dass die Flammen ihm nichts anhaben konnten. Luc zog den Arm aus dem Feuer, und obwohl sein Ärmel bis hinauf zum Ellenbogen versengt und teilweise verbrannt war, kam die Haut darunter gesund und braun wie immer zum Vorschein.
»Seht Ihr, Onkel?« Er hielt den unverletzten Arm wie eine Trophäe in die Höhe, nahm dann seinen Dolch vom Gürtel und stieß ihn in seine linke Hand. Die glänzende Klinge durchbohrte die Handfläche vollständig, doch als Luc sie wieder herauszog, hinterließ sie kein Blut, keine Wunde, nur makellose Haut.
»Seht Ihr? Ich habe Gott gebeten, mir bei allem zu helfen, was ich tun muss. Auch wenn ich für sie sterben muss, werde ich es mit Freuden tun. Denn ich habe hart daran gearbeitet, mich meiner Furcht vor dem Tod und vor Schmerzen zu stellen. Soll der Feind mich doch den Flammen übergeben, ich werde nicht brennen. Soll er doch versuchen, mich mit dem Schwert zu erschlagen, ich werde keine Wunde davontragen. Wie soll ich dann besiegt werden?«
»Durch deinen eigenen Verstand«, erklärte Edouard ruhig. »Furcht kann dich wieder verwundbar machen.« Als Luc protestieren wollte, hob Edouard die Hand und fuhr fort: »Es stimmt, Neffe, du bist ein wesentlich mächtigerer Magier als ich. Den Schmerz so zu überwinden, zeugt von großem Mut. Allerdings ist die Gefahr mehr als nur körperlich. Die Furcht, die du noch besiegen musst, ist nicht die vor deinem eigenen Tod.« Er hielt kurz inne. »Du hast zu anderen mit der Stimme Gottes gesprochen,
Weitere Kostenlose Bücher