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Kalogridis, Jeanne - Die Seherin von Avignon

Kalogridis, Jeanne - Die Seherin von Avignon

Titel: Kalogridis, Jeanne - Die Seherin von Avignon Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Unbekannter Autor
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»Aber du hast meine Warnung vernommen. Du bist gekommen, obwohl Edouard Angst um dich hatte.«
    Er nickte.
    »Ich habe dir die Vision geschickt. Deine Geliebte ist in Gefahr. Edouard hat das gespürt, doch wirkt die Gabe des Zweiten Gesichts in ihm nicht so stark wie bei mir, und vielleicht fürchtete er, du könntest dich selbst in Gefahr bringen bei dem Versuch, sie zu schützen.« Sie hielt inne und strich Luc warm und zart eine Locke aus der Stirn. Ihre Berührung war so mütterlich, dass Luc Mühe hatte, neue Tränen zu unterdrücken. »Mir war so merkwürdig ... Ein schreckliches, unsägliches Elend ...« - das sagte sie ohne Selbstmitleid oder Reue - »... und ich erinnere mich, dass Paul zu mir kam, bevor er mit Edouard von dannen zog. Er erklärte mir, wohin er gehe, was vor ihm liege ...
    Er sagte mir auch, du bliebest in Sicherheit auf Edouards Anwesen zurück. Ich weiß, er wollte mich trösten. Der Feind aber hatte mich noch im Griff. Ich hatte die Gefahr für Sybille gesehen, doch ich konnte es Paul nicht sagen, brachte keinen Laut heraus, und mit dem letzten Rest Kraft kämpfte ich darum, ihn nicht zu verletzen. Ich versuchte sogar zu weinen, doch der Feind schloss all meine Tränen in mir ein. So ist dein Vater fortgegangen, ohne dass ich ihn oder Edouard warnen konnte.« Plötzlich strahlte ihre Miene vor Glück. »Und dann - o mein Sohn, stieg ich wie im Fluge aus der Hölle zum Göttlichen empor. Gerade noch blickte ich durch jenes Fenster meinem Mann und meinem Bruder und Hunderten ihrer Ritter und Knappen nach, da verließ mich der Wahnsinn, und ich war wieder ich selbst und konnte dir die Warnung schicken. Die Göttin hat eingegriffen.« Ihre Mundwinkel verzogen sich zu einem Lächeln, das Grübchen in ihren Wangen entstehen ließ, und ihr Blick wurde wissend. »Es ist deine Bestimmung zu gehen, mein Sohn. Und du musst sofort aufbrechen, rasch, ehe es zu spät ist.« Sie sagte ihm, in welche Richtung sie die Männer hatte ziehen sehen, und schob ihn dann mit der gleichen Kraft, mit der sie ihn zuvor umarmt hatte, zur Tür hinaus.
    Luc ritt schnell. Als die Sonne tief am Himmel stand, stieg er ab und führte Lune an einen rauschenden Bach, damit das Pferd trinken konnte. Um selbst zu trinken, hockte er sich unter den schützenden Ästen einer großen Eiche auf die Fersen und schöpfte mit den Händen das klare Wasser. Seine Gefühle hatten ihn vorangetrieben: die unsägliche Freude darüber, dass der Talisman ihm seine Mutter wieder geschenkt hatte; die Sorge um den Vater; Erregung und schmerzvolles Verlangen bei dem Gedanken, dass er sie bald sehen würde, die Frau mit dem Namen Sybille. Seine Hände zitterten, als er in das Wasser darin blickte, und er sah nicht sein, sondern ihr Spiegelbild - wie sie als Kind gewesen war. Schon damals waren ihre Augen schön und weise gewesen, die Augen einer Frau, einer Göttin. »Danke«, flüsterte er demütig, hob die Hände an die Lippen und trank.
    In der Ferne hinter sich vernahm er Stimmen, das stetige Trommeln von Hufen auf dem Boden, das Knarren großer Räder - eine Armee von Hunderten. Luc erhob sich sofort und stieg auf sein Pferd, dann zog er das Schwert. Er hatte sich weit im Osten jener Landstriche gehalten, die jetzt von Edward dem Schwarzen besetzt waren, und vom Klang der gesprochenen Laute vermutete er, dass es sich um Franzosen handelte. Immerhin bestand die Gefahr, dass er auf englische Plünderer stieß. Außerdem waren unter Edwards Soldaten auch einige französische Verräter. Daher näherte er sich mit Vorsicht, benutzte die Bäume als Deckung, bis er die Armee deutlich vor sich sah, die gerade ihr Lager aufschlug. Und als er das Banner erblickte -den Falken mit den Rosen -, lächelte er, ritt ins Freie und rief einen lauten Gruß.
    Luc fragte sich zum Zentrum der fünfhundert Mann starken Armee durch - über dreihundert kamen allein aus dem Haushalt der de la Roses, zweihundert von den Trencavels, deren Banner ein Wachtturm zierte -, vorbei an Rittern mit ihren Knappen, Dienern und Standartenträgern, ihren massiven Holzwagen zum Transport der Rüstungen, dieser großartigen Kriegsbekleidung, des Bettzeugs, und der Nahrungsmittel - zu denen auch blökende Schafe gehörten, die an die Wagen angebunden waren - und ihren Köchen und Bediensteten. Es war wie ein Gang durch eine kleine Stadt, die Luft von Bratenduft erfüllt, was Lucs Heißhunger weckte. Als er schließlich den rotweiß-gestreiften Baldachin über dem Lager des Grand

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