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Kalogridis, Jeanne - Die Seherin von Avignon

Kalogridis, Jeanne - Die Seherin von Avignon

Titel: Kalogridis, Jeanne - Die Seherin von Avignon Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Unbekannter Autor
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führen, der Magie des Herzens. Du musst deine tiefste Furcht hinter dir lassen und lernen, zu vertrauen.« Auf einmal war Luc nicht mehr im Wald, sondern ein Kleinkind in Windeln, das an der Brust der Mutter trank, wenn auch mit dem Verständnis eines Erwachsenen begabt. Entzückt blickte er zu seiner Mutter auf: die schöne Beatrice mit goldgesprenkelten, malachitfarbenen Augen, die ihn liebevoll anschauten. Ihre Haut war warm wie die Sonne, blass wie der Mond. Sie sang ihm mit tiefer, fraulicher Stimme etwas vor, und ihre blütenfarbenen Lippen öffneten sich über weißen, ebenmäßigen Zähnen. Eine Ewigkeit verweilte er in dieser Verzückung. Eine Ewigkeit, die nur einen Herzschlag dauerte. Beatrice heulte auf und schleuderte ihn zu Boden. Ihr Gesicht war plötzlich zu dem eines Monsters verzerrt, wie das einer Meduse, und er schrie vor Schmerz und nie gekanntem Entsetzen. Ihre Hände umklammerten seinen Hals - jetzt war Luc ein sechsjähriger Junge -, und er war einer Ohnmacht nahe. Papa und der Wächter kämpften darum, ihn zu befreien.
    Gleichzeitig dachte er: Sie meint es nicht so. Es ist nicht sie, sondern jemand anders, der mir etwas zuleide tun will, und ich werde sie erlösen. In ihrem Gesicht klaffte ein Schlund, der Mund war zu einem abscheulichen Schrei aufgerissen, und noch während Luc hinschaute, veränderte sich die Frauengestalt, wurde jünger ...
    Jünger, ein Kind noch, mit dunklem Haar, dunklen Augen und bloßen Füßen, balancierte sie gefährlich nah am Rand eines Wagens ... Du hast sie nur angesehen, und sie fiel.
    »Nein!«, schrie Luc auf. Die Stimme versagte ihm, er hämmerte mit der Faust auf die abgestorbenen Blätter, auf den schimmernden Brokat auf dem Bett seines Onkels. »Nein! Jakob! Hilf mir! Ich kann nicht ...!«
    Sogleich war Edouard an seiner Seite, half ihm, sich aufzusetzen und in kleinen Schlucken einen wohlschmeckenden Tee zu trinken.
    »Es ist vorbei«, sagte sein Onkel besänftigend. »Es ist vorbei, und das hier wird dir helfen, dich auszuruhen ...«
    Luc beruhigte sich und schlief schließlich ein. Als er wach wurde - erstaunlicherweise in seinem eigenen Zimmer -, machte er sich sogleich an die Arbeit, einen Talisman aus Silber herzustellen, den er mit den astrologischen Zeichen seiner Mutter versah. Dies tat er heimlich, und ebenso heimlich bat er seinen Knappen, die Reise nach Toulouse zu unternehmen und den Talisman der Dame de la Rose persönlich auszuhändigen.
    Noch ehe sein Knappe zurückkehrte, hatte sich die Lage im Land gefährlich zugespitzt. In der Bretagne hatte sich eine weitere Gruppe von Eindringlingen den Truppen des englischen Prinzen Edward angeschlossen, und der französische König Jean der Gute erließ den Heerbann. Auch Lucs Onkel und dessen Ritter bereiteten sich darauf vor, in den Kampf zu ziehen. Geplant war, sich mit Paul de la Rose auf dessen Anwesen zu treffen und von dort nach Norden zu reiten, um sich den Truppen König Jeans anzuschließen und dem Feind den Weg abzuschneiden. Am Tag des Aufbruchs traf auch Luc seine Vorbereitungen. Zu unruhig, um zu schlafen, schärfte er Schwert und Dolch und besserte seinen Schild und die Rüstung aus. In Wahrheit graute ihm vor dem Krieg, denn obwohl er kaum befürchtete, getötet zu werden - schließlich war er geübt darin, sich mit magischem Schutz zu umgeben -, konnte er das entsetzliche Leid, das anderen zugefügt wurde, nicht ertragen.
    Doch ein Teil von ihm freute sich auf die Abreise, denn es waren Jahre vergangen, seit er zuletzt bei seinen Eltern gewesen war, und er versuchte sich vorzustellen, wie sie jetzt aussahen. Sein Vater war gewiss ein wenig grau geworden, und seine Mutter vielleicht auch, aber sonst waren sie in seiner Vorstellung unverändert. Luc war tief in Gedanken versunken, als es laut an seine Tür klopfte. »Herein«, sagte Luc, und Onkel Edouard trat ein. Die beiden Ritter, die ihn begleitet hatten, blieben draußen, während er die Tür hinter sich schloss.
    »Luc«, flüsterte Edouard, so leise, dass die draußen Stehenden es nicht hören konnten. »Ich habe eine große Gefahr gesehen, die dich auf dem Schlachtfeld erwartet. Ich bitte dich, komm nicht mit, sondern bleib hier in Sicherheit.«
    In den vergangenen Jahren war Edouards kupferfarbenes Haar über der Stirn und an den Schläfen rasch ergraut, und um die Augen hatten sich tiefe Sorgenfalten gebildet. Jetzt war seine Stirn vor Kummer gefurcht, und das Weiß seiner Augen war mit roten Äderchen durchzogen, als

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