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Kalogridis, Jeanne - Die Seherin von Avignon

Kalogridis, Jeanne - Die Seherin von Avignon

Titel: Kalogridis, Jeanne - Die Seherin von Avignon Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Unbekannter Autor
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hätte er die ganze Nacht nicht geschlafen. Luc schaute seinen Onkel ungläubig an und ließ den Dolch sinken, ebenso wie den Schleifstein, mit dem er ihn geschärft hatte. »Ihr beliebt zu scherzen, Onkel.« Edouards Miene blieb entschlossen, aber düster. »Ich wünschte, es wäre so. Doch die Gefahr ist so groß, dass ich dir untersage, mitzukommen.«
    Langsam legte Luc Stein und Dolch auf seine Kommode und drehte sich zu dem alten Mann um. »Darf ich fragen, um was für eine Gefahr es sich handelt?« »Dein Leben ist in Gefahr«, beharrte Edouard. »Vielleicht sogar noch schlimmer ...«
    »Aber ich war schon auf Schlachtfeldern, Onkel, und bin nicht ein einziges Mal verwundet worden.«
    »Ich weiß, Luc. Ich weiß auch, dass ich dich nicht aufhalten kann, wenn du beschließt, mitzukommen.« Nach einer kurzen Pause fügte Edouard hinzu: »Doch ich bitte dich um
    ihretwillen. Denn wenn du in die Schlacht ziehst, wirst nicht nur du Schaden nehmen, sondern ihr wird entsetzliches Leid zugefügt.« Er holte tief Luft und ließ seinem Unwillen freien Lauf: »Blut und Hölle, Luc, ich wünschte, ich könnte es dich mit dem Zweiten Gesicht sehen lassen. Warum warnt dich deine innere Stimme nicht? Der Feind wird versuchen, deine Furcht gegen dich zu wenden.«
    Bei diesen Worten senkte Luc beschämt den Kopf. Da erkannte Edouard, dass sein Neffe versucht hatte, sich seiner persönlichen Furcht zu stellen, und davor geflohen war wie ein Feigling.
    »Verzeih«, sagte sein Onkel unverzüglich. »Ich sage das alles nicht, um dir weh zu tun, sondern weil ich mir Sorgen um dich mache. Bleibst du hier, Luc? Willst du nicht über Seine Gegenwart in deinem Leben nachdenken? Zum Besten unseres Geschlechts hier in Sicherheit verweilen?«
    »Ja«, antwortete Luc, hielt jedoch den Blick gesenkt. »Der Herr sei mit dir«, sagte Edouard. »Auch mit Euch.« Doch dabei starrte er weiter zu Boden und sah nicht, sondern hörte nur, wie sein Onkel sich umdrehte und gemächlich aus dem Zimmer schritt, die Tür öffnete und hinter sich schloss.
    Luc ließ sich auf den Bettrand fallen und seufzte beklommen. Er liebte seinen Onkel wohl und wusste, dass Edouard niemals ohne triftigen Grund zu ihm gekommen wäre und ihn gewarnt hätte.
    Während er noch grübelnd auf dem Bett saß und den Geräuschen des erwachenden Haushalts lauschte, den Rittern, die den großen Speisesaal zum Frühstück betraten, fiel er in einen seltsamen Zustand, halb wachend, halb schlafend.
    Da sah er seine Geliebte, die ihm vom Schlachtfeld aus etwas zurief. Sie war mit Schlamm beschmutzt, inmitten von Weinstöcken.
    Luc, Luc de la Rose, hilf mir ...!
    Sie kniete auf der blutgetränkten Erde, hinter sich Tausende von Soldaten, bei deren dunklen, scharf umrissenen Silhouetten sich deutlich Axt, Schwert und Schild abzeichneten. Eine Flut von Pfeilen ging gnadenlos um seine Geliebte herum nieder.
    Luc, Luc! Rette mich doch ... Rette mich!
    In der trüben Finsternis strahlte ihre Haut blass und hell, als wollte sie ihm mit diesem Leuchten den Weg zu sich weisen. Und als sie wieder nach Luc rief, wirkte sie gefasst, schön, schimmernd.
    Während er noch auf dieses Bild starrte, rannte eine große, schemenhafte Gestalt auf sie zu, hob schwingend eine große Streitaxt über den Kopf und schlug zu, wollte ihr das strahlende Gesicht entzweispalten. Ihre Miene veränderte sich nicht, sie hob nur anmutig ihre weiße Hand als Geste der Vergebung.
    Luc sprang auf, noch ganz in der Vision gefangen. Da verwandelten sich Sybilles Gesicht und Gestalt in die seiner Mutter, deren Züge auf andere Weise schön waren, ihre Haltung aufrecht und anmutig, und ihre Augen ... Ihre Augen waren so klar, so voller Gewissheit, dass Luc fast die Tränen kamen. Noch immer schlank, die Haare wie blank poliertes Gold, stand sie vor ihm und hatte ihre zarten Hände in den langen, elegant herabfallenden Ärmeln über dem Herzen aneinander gelegt wie eine betende Nonne.
    Luc, sagte sie in einem beherrschten, gleichwohl leidenschaftlichen Ton, den er bisher noch nie gehört hatte.
    Mein Sohn, du musst dich sofort den anderen Soldaten anschließen. Deine Geliebte braucht dich ... Beschütze sie, ehe es zu spät ist...
    Als Luc wieder zu sich kam, war es Morgen, viele Stunden nach Sonnenaufgang, und beunruhigt stellte er fest, dass das Haus still dalag. Er riss die Fensterläden auf und sah, dass der große Hof, in dem sich alle Streitwagen und Karren gesammelt hatten, jetzt leer war. Unmöglich, dass er so lange

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