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Kalogridis, Jeanne - Die Seherin von Avignon

Kalogridis, Jeanne - Die Seherin von Avignon

Titel: Kalogridis, Jeanne - Die Seherin von Avignon Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Unbekannter Autor
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geschlafen und das Rumpeln der Räder und das Hufgetrappel der Pferde beim Aufbruch in den Krieg nicht gehört hatte. Ohne Zweifel war das Edouards Werk. Doch Edouard war nicht imstande gewesen, die flehentliche Bitte um Hilfe, die Beatrice de la Rose an ihren Sohn gerichtet hatte, von ihm fern zu halten, und Luc sagte sich: Endlich habe ich das Zweite Gesicht. Der Talisman hat gewirkt, und meine letzte Furcht ist besiegt, denn meine Mutter ist erlöst. Jetzt ist es an der Zeit, dass ich meine Geliebte finde ...
    Ob Ritter seine Zimmertür bewachten, konnte Luc nicht hören. Daher konzentrierte er sich und vollzog schweigend das Schutzritual, umgab sich mit dem Schleier der Unsichtbarkeit, wie Jakob es ihn vor langer Zeit gelehrt hatte.
    Langsam und vorsichtig öffnete er die Zimmertür ... Dann trat er flink beiseite, als die beiden Ritter, die Wache gestanden hatten, ins Zimmer stürmten, um ihn aufzuhalten. Luc ließ sie verdutzt zurück, lief für sie unsichtbar mit den Waffen in der Hand die Freitreppe hinunter, die zum Parterre und damit in die Freiheit führte. Vom Stall aus ritt er auf seinem weißen Ross Lune in nordöstlicher Richtung, wo sein Zuhause lag. Der Ritt dauerte nur ein paar Stunden, doch es war weit nach Mittag, als Luc froh die Umrisse der großen Burg mit den dunkel klaffenden Zähnen der Turmzinnen erblickte. Gleichwohl war er enttäuscht, dass im Hof weder Soldaten noch Karren zu finden waren.
    Der Vater und Onkel Edouard waren bereits fort. Eine seltsame Ahnung bemächtigte sich seines Herzens.
    Luc ritt hinauf zum Haupttor der Burg, band sein Pferd an und lief über eine Seitentreppe leise zu der Zimmerflucht seiner Mutter, ohne einem Diener zu begegnen. Er war kein Narr, und obwohl er seine Mutter über alles liebte, entledigte er sich seines Schwertes und des Dolches und legte sie im Vorzimmer ab, damit sie sich ihrer nicht bemächtigen und sie gegen ihn richten konnte. In ihrem Zimmer gab es keine Waffen, und Luc war stark genug, um sich vor einem Angriff von ihr zu schützen. Gewiss, er hatte Beatrice seit Jahren nicht gesehen, doch er wusste noch, wo der Schlüssel zu ihrem Gemach aufbewahrt wurde. Sein Vater hatte ihn nie woanders hingelegt. Mit einer Mischung aus Grauen und Sehnen nahm er den Schlüssel, steckte ihn in das rostige Schloss und drückte die schwere Holztür auf.
    Eine einsame Gestalt stand am vergitterten Fenster, dessen Läden geöffnet waren, und schaute hinaus auf die Weinberge unterhalb der Burg. Eine schlanke Frau, gekleidet in smaragdgrüne Wolle, mit einer Schürze aus hauchdünner, gischtfarbener Seide und einer Haube im selben Farbton, auf der ein goldener Reif saß. Ihre Zöpfe - noch immer schimmernd wie Gold, ohne jeden Anflug von Silber -waren wie gewohnt zu Schnecken gerollt, und als sie sich zu Luc umdrehte, blickte sie ihn mit großen, ausdrucksvollen, blaugrünen Augen an.
    Luc schnappte hörbar nach Luft. Das Gedächtnis hatte ihn getrogen, er hatte vergessen, wie wunderschön sie war. Und dann lächelte sie, und erneut blieb ihm die Luft weg. »Luc«, sagte sie in demselben Tonfall wie in seinem Traum. »Luc, Gott sei Dank, mein Liebling, mein Sohn ...« Sie streckte ihm die Arme entgegen, und bodenlange Ärmel breiteten sich aus wie die Flügel eines Engels. Binnen eines Herzschlags fällte er die Entscheidung, zu ihr zu gehen, den wonnigen Augenblick Wirklichkeit werden zu lassen, den er gerade erst geträumt hatte.
    Er trat zu ihr, und voller Glück spürte er die Arme seiner Mutter um sich, lauschte ihrer tränenerstickten Stimme, die ihm ins Ohr flüsterte: »O mein Sohn, mein Sohn, wie habe ich dich und deinen Vater all die Jahre hindurch leiden lassen ...« Sie rückte plötzlich von ihm ab und hielt ihn auf Armlänge, um ihn bewundernd zu mustern. »Wie groß du geworden bist!«
    Und wie klein du geworden bist, dachte Luc und lächelte. Tränen rannen über seine Wangen, während sie fortfuhr: »Wie du deinem Vater gleichst, und deinem Onkel Edouard. Ich sehe sie beide in dir ...« Sie hielt inne und lachte, und es war ein so herrlicher Klang, dass Luc mit ihr lachte, immer wieder von Schluchzern unterbrochen. »Was für ein erstaunliches Wunder! Wie kam es dazu?«
    »Das spielt keine Rolle«, sagte Luc. »Wichtig ist nur, dass es dir gut geht.«
    Sie drückte ihn mit bewundernswerter Kraft an sich, dann ließ sie ihn wieder los, die Arme noch immer locker um seine Hüften gelegt. Da verdunkelten sich mit einem Mal ihre Miene und Stimme.

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