Kalogridis, Jeanne - Die Seherin von Avignon
hierher, Onkel. Doch sie wird in Gefahr geraten und ohne mein Eingreifen sterben. Warum sollte der Feind mich davor warnen?«
Edouard drehte sich mit kaum verhohlenem Ungestüm zu ihm um. »Damit du selbst in Gefahr gerätst.«
Luc war verärgert, dass Edouard mit seinem Wutausbruch einen so glücklichen Augenblick verdarb. »Wenn er mir etwas zuleide tun wollte, warum hat er mich nicht angegriffen, als ich mit meiner Mutter allein war?«
»Ich habe dir doch gesagt, dass ich eine Gefahr für dich auf dem Schlachtfeld vorausgesehen habe. Daher versprich, dass du nur gekommen bist, um deinem Vater die gute Neuigkeit zu bringen, nicht, um zu kämpfen.«
»Ich werde nicht von seiner Seite weichen, Onkel. Nicht bis ich ihn und meine Geliebte sicher nach Hause geleitet habe.«
»Edouard.« Pauls Stimme, seine Augen und seine Miene hatten sich bei den Worten seines Schwagers plötzlich wieder verfinstert, als hätte jemand eine innere Flamme ausgelöscht. »Stimmt das?«
Edouard nickte, den ernsten Blick noch immer auf seinen Neffen gerichtet.
Da wandte Paul sich an Luc. »Wenn das so ist, darfst du nicht mit uns kommen. Das Zweite Gesicht deines Onkels sagt die Wahrheit, mein Sohn. Es hat meines Wissens noch nie versagt. Was ist schon Gutes an einer erfreulichen Neuigkeit und daran, die Ehre zu haben, an deiner Seite zu kämpfen, wenn ich doch weiß, dass du in Gefahr bist? Vielleicht ...« - an dieser Stelle tätschelte er tröstend Lucs Schulter - »... vielleicht stimmt es, dass deine Mutter noch einmal bei uns ist. Wer weiß? Aber wir müssen auch auf Edouard hören.«
»Ich muss tun, was mein Herz mir befiehlt«, sagte Luc hartnäckig.
Angesichts seines Ungehorsams zog Paul die Augenbraue hoch, und eine vertraute Härte, die Luc als Kind das Zittern gelehrt hatte, kroch über sein Gesicht, wurde jedoch rasch milder und verwandelte sich in einen Ausdruck der Unsicherheit, als er Edouard einen hilfesuchenden Blick zuwarf.
Lucs Onkel seufzte. »Da können wir nichts machen, es sei denn, wir bringen ihn um - und das wäre schwierig genug. Er hat Jakobs Lektionen nur zu gut gelernt.« Edouard holte tief Luft, trat nahe an Luc heran und sagte mit einer von Herzen kommenden Demut, die sein Neffe noch nie an ihm erlebt hatte: »Doch es mag sein, dass ich ein schlechter Lehrer war. Vielleicht habe ich dir gegenüber nicht genug betont, wie wichtig es für dich ist, in Sicherheit zu bleiben, bis du deine Furcht besiegt hast.«
»Aber darum geht es doch«, sagte Luc und lächelte. »Meine größte Furcht war, dass Maman nie mehr zu uns gehören könnte ... Und jetzt ist sie wieder unter uns.«
»Ach, Luc«, sagte Edouard, ließ sich mit einem tiefen Seufzer auf die Fersen sinken und schlang die Arme um die Knie. »Dir steht noch mehr bevor. Glaube mir: Du hast dich selbst in Gefahr gebracht.«
»Dein Onkel ist sehr weise. Hör auf ihn und bleibe mir zuliebe hier«, bat Paul seinen Sohn, woraufhin Luc antwortete: »Um meiner Geliebten willen muss ich gehen.«
Im Laufe des Tages vereinigte sich der langsam vorankommende Tross, der aus den Armeen der de la Roses und der Trencavaels bestand, mit denen des Königs. Das große Ungeheuer wuchs ständig weiter, genährt durch die Ankunft anderer Adliger mit ihren Vasallen, und setzte seinen Zug nach Norden fort, denn Späher hatten gemeldet, der Schwarze Prinz habe die Loire überquert und sei in der Nähe von Poitiers auf die englische Armee gestoßen, die vom Duke of Lancaster angeführt wurde. Luc ritt neben seinem Vater, der seinem Sohn eine Rüstung hatte bringen lassen, während Edouard bei seinen eigenen Rittern blieb und sich nicht einmal für die Mahlzeiten seinem Neffen und seinem Schwager anschloss, was höchst auffällig und ungewöhnlich war. Diese Haltung kränkte Luc. Nicht so sehr seiner selbst wegen. Er war überzeugt, dass es Edouard, wenn sie aus dem Krieg zurückkehrten und er sich mit eigenen Augen von Beatrices Gesundheit überzeugen könnte, gewiss Leid täte, sich von seinen Verwandten ferngehalten zu haben. Aber seinen Vater schmerzte es offensichtlich, obwohl er es nie erwähnte und in den langen Unterhaltungen, die er unterwegs mit seinem Sohn führte, Fröhlichkeit vortäuschte. Am dritten Tag, als die Armee am späten Vormittag eine Pause eingelegt hatte, erreichte sie die Meldung, der englische Prinz habe die Loire erneut überquert und marschiere auf Poitiers zu. Das Aufgebot des Schwarzen Edward sei nur halb so groß wie das des
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