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Kalogridis, Jeanne - Die Seherin von Avignon

Kalogridis, Jeanne - Die Seherin von Avignon

Titel: Kalogridis, Jeanne - Die Seherin von Avignon Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Unbekannter Autor
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Seigneurs erreicht hatte, war die Sonne bereits untergegangen.

Dort, im gelben Schein eines von Steinen umgebenen Feuers, saß Lucs Vater, wärmende Pelze über sich gebreitet, vor seinem Zelt auf einem Teppich aus Schafsfellen. Er war in eine ernsthafte Unterhaltung mit seinem stellvertretenden Kommandeur vertieft und beugte sich über eine Landkarte, sodass er nicht bemerkte, wie sein Sohn das Pferd bei den anderen festband und aus dem Schatten trat. Luc blieb einen Augenblick stehen. Er hatte seinen Vater seit sieben Jahren nicht mehr gesehen, und in dieser Zeit war Paul erstaunlich gealtert. Sein dunkles, kastanienbraunes Haar war nun fast silbergrau, obwohl seine Augenbrauen noch dunkel und buschig waren, ja sogar wild. Die Untätigkeit hatte ihm Leibesfülle und ein Doppelkinn beschert, Kummer und Schlaflosigkeit hatten dunkle Ringe unter seine Augen gelegt. Selbst seine Bewegungen waren langsam, die Bewegungen eines Menschen, der von Trauer gedrückt ist. Sein Herz war wohl, vermutete Luc, aufs Neue gebrochen worden durch etwas ähnlich Tragisches wie den Wahnsinn seiner Frau. Luc zerriss es das Herz, als er erkannte, dass Paul nicht nur seine Frau, sondern auch seinen Sohn verloren hatte. Dieser Gedanke und der jammervolle Anblick seines Vaters verstörten den jungen Ritter so sehr, dass ihm der Atem hörbar stockte.
    Bei diesem leisen Geräusch hob der Grand Seigneur das zerfurchte Gesicht von der Landkarte und spähte in die Dunkelheit. Sein Mund öffnete sich, er riss die Augen weit auf, als ihm die Erkenntnis dämmerte und eine Hoffnung in ihm aufstieg, von der er kaum glauben konnte, dass sie sich bewahrheitete.
    »Luc«, flüsterte er, erhob sich, achtete weder auf die Pelze, die ins Feuer fielen, noch auf seinen Stellvertreter, der sich beeilte, sie zu retten. Die beiden Männer gingen mit weit ausgebreiteten Armen aufeinander zu. Neben dem knisternden Feuer umarmten sie sich so fest, dass sie sich gegenseitig fast die Luft abschnürten, während sie ihren Tränen freien Lauf ließen. Luc hielt seinen Vater noch in den Armen, da tauchte aus dem Schatten hinter diesem eine Gestalt auf: Edouard. Auf seinem Gesicht, halb im Dunkeln, halb im Licht, lag der Ausdruck einer so immensen Niederlage, wie sein Neffe es noch nie gesehen hatte.
    Der stellvertretende Kommandeur und alle Diener wurden weggeschickt. Edouard blieb mit verschränkten Armen neben Luc und Paul de la Rose stehen und starrte ins Feuer, während Luc sich mit einem Teller Hammelfleisch neben seinen Vater setzte und erklärte, dass er von seiner Mutter geträumt habe, zum elterlichen Anwesen geritten sei und sie gesund vorgefunden habe.
    »Gesund«, flüsterte Paul. »Luc, mach mir nichts vor. Glaubst du ...«
    »... ich glaube, was ich gesagt habe, Vater. Es geht ihr gut. Sie ist wieder sie selbst und macht sich Sorgen um dich.«
    Luc schaute rasch zu Boden, bemüht, die starken Gefühle, die in ihm aufkamen, nicht offen zu zeigen. »Sie hat sich gefreut, mich wieder zu sehen.«
    Er blickte rechtzeitig auf, um den Funken zu bemerken, der in den Augen seines Vaters aufglomm. Der Funke breitete sich aus, ließ Pauls Gesichtszüge weicher werden, bis er von innen heraus strahlte.
    Wenn es einen Moment gab, auf den Luc mit ebensolcher Sehnsucht gewartet hatte, wie auf die Begegnung mit seiner Geliebten, dann war es dieser: zu wissen, dass seine Mutter wieder gesund war, und zu erleben, dass der Kummer aus den Augen seines Vaters verschwand. »Beatrice«, sagte Paul ins Dunkel hinein, und seine Lippen bebten, als er lächelte. »Ist es möglich? Meine Beatrice ist zu mir zurückgekehrt ...«
    »Paul«, warnte Edouard, kniete vor seinem Schwager nieder und packte ihn am Arm, sodass dieser ihm direkt in die Augen schauen musste. »Mir liegt es fern, dir die Freude zu nehmen. Doch ich glaube, das ist eine List des Feindes.«
    Paul zuckte angewidert zurück. »Eine List... Zu welchem Zweck? Einem alten Mann das Herz zu brechen?«
    »Deinem Sohn Leid zuzufügen.«
    »Onkel, bitte, lasst es mich erklären«, entgegnete Luc rasch. »Ich bin nicht hierher gekommen, um mich gegen Euch aufzulehnen. Ihr müsst wissen, dass ich eigens einen Talisman für Maman angefertigt habe, der sie vom Feind erlösen sollte, und er hat gewirkt! Wenn Ihr sie nur mit eigenen Augen hättet sehen können, dann wüsstet Ihr, dass sie von allen bösen Einflüssen frei ist. Ja, sie machte sich sogar Sorgen, dass meiner Geliebten etwas zustoßen könne. Sie - Sybille - kommt

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