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Kalogridis, Jeanne - Die Seherin von Avignon

Kalogridis, Jeanne - Die Seherin von Avignon

Titel: Kalogridis, Jeanne - Die Seherin von Avignon Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Unbekannter Autor
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französischen Königs, und seine Mannen seien nach monatelangen Raubzügen über Land kriegsmüde. Ein französischer Sieg schien sicher.
    Auf nach Poitiers!, schallte der ungestüme Ruf durch das riesige Heerlager, bis der Boden unter Lucs Füßen erbebte, seine Zähne und sein Schädel von dem mächtigen Klang vibrierten und er ebenfalls einstimmte: »Auf nach Poitiers!«
    Denn dort, das wusste er in seinem Herzen, würde er endlich seiner Geliebten begegnen.
    Nachdem die Armeen Poitiers erreicht hatten, unternahmen der französische und der englische Herrscher, angespornt von päpstlichen Gesandten, zwei Tage lang halbherzige Versuche, eine Vereinbarung auszuhandeln. Doch am Ende wollte keiner von beiden nachgeben. Das Schicksal von ganz Frankreich stand auf dem Spiel. Der dritte Tag war ein Sonntag, und niemand wollte dessen Heiligkeit verletzen und Blut vergießen. Luc wurde von Stunde zu Stunde unruhiger, denn er wusste, dass die Begegnung mit Sybille immer näher rückte. Er betete darum, sie möge erscheinen, bevor das Kriegsgetümmel losbrach, solange es noch sicher war. Doch kurz vor dem Morgengrauen des vierten Tages saß Luc in voller Rüstung auf seinem Pferd Lune, den Helm mit scharlachroten Federn geschmückt. Das Pferd unter ihm zitterte. Paul de la Rose ritt an seiner Seite. Sein Umhang hatte die Farbe unberührten Schnees, sein Brustpanzer war blank poliert.
    Rechts und links von ihnen war niemand, vor ihnen nur ein Feld und wallender Nebel - und, außer Sicht, die Engländer. Paul und Luc waren die Ersten in der zum Angriff bereiten Speerspitze - so genannt nach ihrer Form -, gefolgt von vier Standartenträgern, dahinter acht Vasallen der de la Roses. Paul hatte sich freiwillig gemeldet, den Angriff anzuführen, und Luc hatte keinen anderen Platz akzeptiert als den neben ihm. Sie sprachen nicht, zu angespannt waren sie, aber auch, weil die Helme kaum Geräusche hindurchließen und eine Unterhaltung im Flüsterton nicht möglich war.
    Noch nie war Luc in eine Schlacht geritten, ohne dass Bataillone von Fußsoldaten den Weg vor ihm freigemacht hätten. Ein Gefühl der Verwundbarkeit überfiel ihn, doch er unterdrückte es rasch. Schließlich hatte er sorgsam goldene Schutzkreise um seinen Vater und sich gezogen. Einen Teil seiner Konzentration verwandte er außerdem auf das Bild seiner Geliebten, um sie auf diese Weise zu schützen.
    Hinter Luc tönte schriller Trompetenklang, das Signal für den Angriff. Der große, erfahrene Krieger Paul de la Rose neben ihm brüllte zur Anfeuerung und hob sein langes Schwert mit der rechten Hand. Mit der Linken packte er sein Kurzschwert und die Zügel und trieb sein glänzend schwarzes Ross an. Die zweihundert Ritter der Speerspitze nahmen das Gebrüll auf, ein ohrenbetäubender Lärm. Als sie zum Angriff in den wabernden Nebel hinein ritten, der sich feucht auf sein Gesicht legte, begann Lucs Herz wild im Rhythmus der Hufschläge zu pochen. Das Stimmengewirr vereinte sich schließlich zu einem einzigen Ruf: Für Gott und für Frankreich!
    Und kaum zwei Armlängen vor ihm rief Paul de la Rose, noch immer das Schwert schwingend: »Für die edle Beatrice!«
    »Für die edle Beatrice!«, fiel Luc ein und hob ebenfalls sein Schwert, als aus dem Nebel Gestalten angelaufen kamen, eine dunkle Flut, die sich zwischen ihn und seinen Vater ergoss und sie beide auseinander trieb. Die anderen Ritter der Speerspitze rings um Luc drängten nach vorn und schlossen rasch die englischen Fußsoldaten ein, die in der Minderheit waren.
    Luc verzog das Gesicht, als er die helle, scharfe Klinge seines Schwertes auf den Hals und die Schultern eines gemeinen Soldaten in dreckiger Kleidung und mit schmutzigem Gesicht niedersausen ließ. Wie ungerecht das doch war! Der Feind war anscheinend davon ausgegangen, dass die Franzosen den Kampf in üblicher Manier beginnen und ihre gemeinen Soldaten zu Fuß voranschicken würden, dass sie diese zuerst opferten, ehe die edleren Krieger zu Pferde eingriffen ...
    Er sprach ein Gebet für den englischen Soldaten, der vor Schmerz aufschrie und in die Knie sank, während um ihn herum alle Ritter den triumphierenden Ruf anstimmten: Sieg! Der Sieg ist bereits unser!
    Mitten in diesem Überschwang senkte sich der Wahnsinn herab wie ein Schwärm Heuschrecken. Aus dem Himmel schwirrten ihnen Pfeile entgegen mit einer so tödlichen Geschwindigkeit, dunkel und vernichtend, dass Franzosen, die gerade noch lächelnd »Sieg!« gebrüllt hatten, im nächsten

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