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Kalogridis, Jeanne - Die Seherin von Avignon

Kalogridis, Jeanne - Die Seherin von Avignon

Titel: Kalogridis, Jeanne - Die Seherin von Avignon Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Unbekannter Autor
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Plötzlich schob sich ihr heiteres Madonnengesicht davor, ihr wunderschönes Lächeln. Und er dachte mit unbändiger Glückseligkeit: Ich habe sie gesehen, jetzt kann ich sterben.
    Dunkelheit.
    Dann eine Wärme, die sich vom Innersten seines Herzens her ausbreitete, ihre Berührung, lebendig und geladen mit einer Kraft, die von seiner Brust bis in seine Knochen, in sein Fleisch drang ... Luc kam zu sich und stellte erstaunt fest, dass er lebte und keine Schmerzen empfand, nicht einmal in den Armen und Schultern, wie sonst, wenn er stundenlang ein schweres Schwert geschwungen hatte. Seine Gedanken, seine Sicht waren außergewöhnlich klar. Sybille. Er hatte es nicht geträumt.
    Ja, als er sich aufrichtete und seinen Helm und die gespaltene Brustplatte neben der blutigen Axt liegen sah, erhaschte er noch in der Ferne einen kurzen Blick auf sie - eine kleine, dunkle, schwarz verschleierte Gestalt -, getrennt von ihm durch eine neue Woge englischer Soldaten. Sie ritt davon, saß vor Onkel Edouard auf dessen Pferd, und obwohl Luc erleichtert war, dass sie sicher dem Kampf entkam, rief er hinter ihr her: »Sybille! Sybille ...!« Lucs Worte wurden von Schlachtrufen und vom Waffengeklirr der erneut gegen den Feind vorrückenden Franzosen verschluckt. Doch er hatte nicht so viel riskiert, um gleich wieder von ihr getrennt zu werden. Verzweifelt schaute er sich nach einem Pferd um, denn ihm war eingefallen, dass er Lune hatte laufen lassen. Er rollte sich zur Seite und kam unter großen Mühen auf die Knie.
    Neben ihm lag ein von Pfeilen durchbohrtes Pferd. Er hielt sich an dem Kadaver fest und zog sich langsam und unbeholfen hoch, behindert vom Rest seiner Rüstung. Edouards Schlachtross war bereits in der wogenden Masse aus Metall und Pferdeleibern verschwunden, und Luc hatte keine Hoffnung mehr, ihm folgen zu können, auf natürliche Weise zu sehen, welche Richtung er genommen hatte. Bisher hatte er stets auf Edouards Zweites Gesicht vertrauen können, das ihn führte, wenn seine eigenen Fähigkeiten nicht ausreichten. Doch im Geist hörte er schwach, aber unmissverständlich die Stimme seiner Geliebten, die ihm zuflüsterte: Ich werde dich in Carcassonne wiedersehen ...
    Noch während sich ihre tonlosen Worte in seinem Geist formten, beschlich ihn eine finstere Ahnung.
    Er war ohnmächtig geworden, ja gestorben. Edouard hatte Recht behalten. Seine, Lucs, Magie war nicht stark genug gewesen, ihn zu beschützen, was bedeutete, dass er vielleicht auch seinen Vater nicht hatte schützen können ...
    Luc wollte vorwärts stürzen, taumelte aber unter der Last seiner Rüstung, fand kaum Halt auf dem mit Leichen übersäten Boden, schrak zurück vor dem Ansturm aufeinander prallender Krieger. Er besaß nicht die Gabe des Zweiten Gesichts, nur den Instinkt eines Soldaten und das Herz eines Sohnes. Das reichte aus, ihn in das Sumpfland zwischen dem Schlachtfeld und der Verschanzung zu führen, wo die Engländer hinter uralten Weinstöcken, Büschen und der schützenden Seite eines Hügels zur Deckung der Bogenschützen Palisaden aus Holz und Erde errichtet hatten. Nicht weit davon entfernt, halb im zerwühlten Sumpfland versunken, lag Paul de la Rose, Grand Seigneur von Toulouse, den Schild zum Schutz, das Schwert zum Schlag erhoben. Vielleicht war er von seinem großen schwarzen Ross gestürzt, vielleicht hatte er beschlossen, dem Feind zu Fuß entgegenzutreten. Neben ihm lagen keine anderen Leichen französischer Kämpfer, da er allein so weit in das englische Territorium vorgedrungen war, bis er den Tod fand. Er war so nah an die Palisaden der Bogenschützen herangekommen, dass eine ganze Köcherladung Pfeile aus seinem Brustpanzer ragte. Die Pfeile hatten sich durch das Metall und den Körper gebohrt, die scharfen Spitzen hatten sogar noch den zerfetzten Umhang in seinem Rücken durchschlagen.
    Mit einem Aufschrei ließ sich Luc auf die Knie fallen und nahm seinem Vater sanft den Helm ab. Dessen Haar war feucht, das Gesicht noch glänzend vor Schweiß, und in den offenen Augen unter den finsteren schwarzen Augenbrauen stand keine Furcht, kein Hass - nur Entschlossenheit: Für die edle Beatrice ...
    Mit übermenschlicher Kraft zog Luc die Pfeile nacheinander aus dem Körper seines Vaters, riss sich dabei die Hände auf, trieb sich lange Splitter hinein, bis er schließlich in der Lage war, den schweren Brustpanzer anzuheben. Die Brust seines Vaters darunter - das große Oval vom Brustbein bis zum Nabel - war nur eine einzige

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