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Kalogridis, Jeanne - Die Seherin von Avignon

Kalogridis, Jeanne - Die Seherin von Avignon

Titel: Kalogridis, Jeanne - Die Seherin von Avignon
Autoren: Unbekannter Autor
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verhüllte Gestalt die Kapuze sinken und entblößte das breite Gesicht eines Mannes, der die rote Kappe eines Kardinals trug. Vor Lucs Augen verwandelten sich die Züge des Kardinals, geschmeidig wie Wasser unter einem hineingeworfenen Stein, in die eines anderen Menschen.
    Noch ehe die Verwandlung vollzogen war, schrie Luc entsetzt auf, als ihm Geist und Wille genommen wurden und sich die Hände seiner Mutter fest um seinen Hals schlossen...
XVII
    Michel kam mitten in der Nacht zu sich. Es war kein Erwachen wie aus einem Traum, denn er hatte nicht geschlafen, sondern war sich durchaus bewusst, dass er das geschaut hatte, was einmal Luc de la Roses Leben gewesen war. Und wie sein Glaube an Gott in den letzten beiden Tagen nichts an Frömmigkeit eingebüßt hatte - im Gegenteil, er war sogar gewachsen -, war auch seine Ehrlichkeit nicht geringer geworden, und wirklich, er kam sich nicht wie ein verhexter Mann vor, sondern vielmehr wie einer, der fähig ist zu träumen.
    Am Ende seiner Vision hatte er das verzweifelte Verlangen verspürt, in den Kerker zurückzukehren und diese Sybille zu retten. Und so betete er zur Jungfrau Maria, sie möge seinen Geist befreien von der Verdammnis und Ketzerei, die ihn heimsuchten.
    Heilige Maria, Mutter Gottes, wenn Sybilles Geschichte und die Träume von Luc nichts als Gotteslästerung sind, halte mich zurück, wenn nicht, bitte ich demütig um ein Zeichen, ein Zeichen, dass ich zu ihr gehen soll. Erneut kam tiefer Friede über ihn. Vor seinem geistigen Auge sah er die Heilige Mutter vor sich, die Hände zum Segen erhoben. Eine angenehme, tiefe Wärme breitete sich auf seiner Kopfhaut aus, als sie ihm segnend die Hand auflegte und ihm einflüsterte: Geh.
    Michel erhob sich mit leichtem, entschlossenem Herzen. Da es noch dunkel war, füllte er die beinahe leere Öllampe auf und nahm sie mit. Als er den Vorraum durchquerte, warf er einen Blick auf Vater Charles, doch der Priester war noch immer grau im Gesicht und atmete röchelnd. Michel verließ das Kloster und eilte durch die nächtlich kühlen Straßen der Stadt zum Kerker. Erst das Versprechen einer beträchtlichen Bestechungssumme verschaffte ihm Einlass, denn der Wächter, ein sauertöpfischer Mann mit gebrochener Nase, die in der Mitte in einem beängstigenden Winkel gebogen war, vermutete, der Schreiber sei zu so später Stunde gekommen, um seiner Gefangenen Gewalt anzutun. Michel erklärte sich ohne Zögern bereit, ihm am nächsten Tag einen Livre d'Or auszuhändigen, wenn seine Missetat dem Kerkermeister nicht gemeldet würde. Beim Betreten der Zelle wurde ihm bewusst, dass die Äbtissin nicht geschlafen hatte.
    Im Gegenteil, sie saß aufrecht auf ihrer Pritsche, als habe sie ihn erwartet. Bei ihrem Anblick - zerbrechlich, zerschlagen, schwach - überkam ihn eine solche Woge der Liebe und Bewunderung, dass er fast von dem Bedürfnis übermannt wurde, vor ihr niederzuknien und ihr die Hand zu küssen. Sie war jeden Preis wert, die Exkommunikation, den Scheiterhaufen, ja sogar ewige Verdammnis.
    Doch Michel wollte sie nicht damit erschrecken, ihr seine Gefühle zu offenbaren, zumal ihnen dafür wohl kaum Zeit blieb. So sagte er ohne Umschweife: »Ihr habt ihn auf dem Schlachtfeld geheilt. Wusstet Ihr das?« Die Äbtissin betrachtete ihn schweigend. »Luc«, hakte er nach. »Ihr habt ihn bei Poitiers geheilt. Er ist nach Hause zu seiner Mutter zurückgekehrt, die der Feind dazu benutzte, ihn umzubringen. Also weiß ich jetzt sowohl aus Euren Worten als auch aus meinem Traum, wie er starb. Doch ich verstehe noch nicht, warum es so wichtig für mich sein soll, seine Geschichte und sein trauriges Ende zu kennen oder warum Ihr mir die Träume geschickt habt.«
    »Ihr wisst noch immer nicht alles«, antwortete Sybille. »Und das müsst Ihr wissen, so wie er es wusste.«
    »Ich sehe nicht, was ich noch erfahren kann. Aber ich weiß wohl, dass ich Euch helfen will«, entgegnete Michel. »Ihr wisst, warum ich hier bin, Mutter, uns bleibt nur noch diese eine Nacht. Rigaud ist der Feind, er wird erst dann Ruhe geben, wenn Ihr tot seid.«
    »Guter Bruder«, hob sie mit mitleidiger Miene an, »ich kann nicht ...«
    Doch Michel fuhr fort: »Ihr müsst heute Nacht fliehen. Ich habe den Wächter bestochen, dass er uns nicht stört. Könnt Ihr gehen? Wenn ja, dann nehmt meine Kutte, setzt die Kapuze auf und verlasst sofort das Gefängnis.« Mit elender Stimme wiederholte sie: »Ich kann nicht.«
    »Aber Ihr müsst!«, entfuhr es Michel in
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