Kalogridis, Jeanne - Die Seherin von Avignon
Lache aus geronnenem Blut.
Schluchzend holte Luc tief Luft und versuchte, die helle Wärme in sich wachzurufen, die ihn vor Jahren überkommen hatte, als er, noch ein kleiner Junge, zu seinem Vater ins Bett gekrochen war und die Hände auf dessen hart geschwollenen Oberschenkel gelegt hatte. Er versenkte seine Hände tief in das dickflüssige, klebrige Blut, das aus der Brust seines Vaters gequollen war, neigte den Kopf und wartete - wartete auf die Wärme, den Frieden, die bebende Kraft. Allein, sie kam nicht. Er hatte seinen Vater einmal geheilt, und im Laufe der Jahre waren seine Fähigkeiten nur noch stärker geworden. Warum hatten ihn Gott, die Göttin, die Göttliche Macht Kether jetzt verlassen?
Luc blickte zum Himmel empor und schrie laut auf vor Zorn, wütete nicht gegen die Engländer oder die eigene Unfähigkeit, den Vater zu schützen, sondern gegen die Grausamkeit des Schicksals, das den beiden Liebenden Beatrice und Paul, die über so viele Jahre hinweg getrennt waren, kein Wiedersehen gönnte.
Er entwand das große Schwert dem festen Griff seines Vaters, und wild um sich schlagend, ohne Schild oder Helm oder Brustpanzer, warf er sich aufheulend in die Schlacht. Wie viel Blut er vergoss, wie lange er kämpfte, hätte er nicht zu sagen vermocht, denn im Kummer zählt nicht die Gegenwart, nur die Vergangenheit. Erst kurz vor Sonnenuntergang war die Schlacht beendet. Der größte Teil dieser Armee des französischen Adels war erschlagen oder gefangen genommen, und der besiegte König Jean der Gute übergab dem Feind mit ergreifender Geste den Handschuh. Und Luc, der erstaunlicherweise unversehrt geblieben war, obgleich sein Herz vor doppelter Trauer schmerzte, ließ Paul de la Roses Schwert sinken, ging zum Leichnam seines Vaters und legte sich neben ihm nieder.
Dort verbrachte er die Nacht und stellte sich tot, als die Engländer in der Nähe nach Überlebenden suchten. Als der Morgen graute, war das Feld verlassen bis auf die Toten und ein paar hungrige Raben. Die Engländer hatten die verzierten Wagen und die schönen Rösser der de la Roses mitgenommen, doch Luc gelang es, eine kräftige Stute aufzutreiben und einen offenen wackeligen Karren. Mühsam und unter großen Schwierigkeiten hievte er den schweren Körper seines Vaters auf die Ladefläche. Der von Mutlosigkeit genährte Gram machte es ihm möglich. Obwohl er sich verzweifelt danach sehnte, Sybille zu folgen, wusste er doch nicht, wohin sie gegangen war, und sein Kummer überschattete alles, außer der Liebe und dem Pflichtgefühl, die er seinen Eltern gegenüber empfand. Wie konnte er Paul de la Rose das Recht verweigern, auf heimatlichem Boden begraben zu werden? Den Ritt nach Hause über nahm er kaum etwas wahr, so unerträglich quälte ihn der Gedanke an die vor ihm liegende Aufgabe, und zuweilen fühlte er sich vor Schmerz ganz taub.
Und wirklich war dies nach seiner Heimkehr die schwerste Aufgabe: Über die Schwelle ins Gemach seiner Mutter zu treten, nachdem er die Leiche seines Vaters den Dienern anvertraut hatte, und seiner Mutter ins Gesicht zu blicken, als sie sich zu ihm umdrehte.
Ihre großen, blaugrünen Augen quollen über vor Tränen, die unaufhörlich über ihre blassen Wangen rannen, doch noch ehe Luc ein Wort hervorbrachte, schenkte sie ihm ein zitterndes Lächeln und hauchte: »Ich weiß, er ist ehrenvoll gestorben und mit meinem Namen auf den Lippen. Ich weiß auch, dass du ihn bis zu deinem eigenen Tod beschützt hast. Befreie dein Herz von aller Schuld, mein Sohn, denn du hast tapfer und aufrecht gehandelt.
Es ist meine Pflicht und mein Vorrecht, mich um die Leiche deines Vaters zu kümmern. Bleib bei mir, Luc, wir wollen uns in unserer Trauer beistehen.«
»Mutter«, murmelte er und schloss sie weinend in die Arme, beugte sich zu ihr, sodass sich ihre nassen Wangen berührten. »Mutter, ich bin gekommen, um Vaters Leiche zurückzubringen. Aber ich kann nicht bleiben. Ich muss ...«
»... sie finden.« Mit überraschender und doch sanfter Kraft hielt seine Mutter ihn fest und legte ihm die Hand auf die Wange. »Ich verstehe. Aber wo ist sie hingegangen, mein Sohn? Weißt du, wo sie hinwollte?«
»Nach Carcassonne«, antwortete Luc ohne zu zögern und erinnerte sich an die unausgesprochene Botschaft, die Sybille ihm gesandt hatte.
»Carcassonne«, flüsterte Beatrice, als wäre seine Nachricht eine Enthüllung. »Ah, aber sie ist noch nicht dorthin zurückgekehrt, etwas hat sie daran gehindert. Sie hat sich
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