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Kalogridis, Jeanne - Die Seherin von Avignon

Kalogridis, Jeanne - Die Seherin von Avignon

Titel: Kalogridis, Jeanne - Die Seherin von Avignon
Autoren: Unbekannter Autor
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verirrt, befindet sich in Gefahr und braucht dringend deine Hilfe ...«
    Bevor ihm eine Antwort über die Lippen kam, verschwamm alles um ihn, ja, Luc konnte weder seinen noch ihren Körper sehen. Dichter Urwald umgab sie, und durch das Laub drang kaum Sonnenlicht. Es war kühler und dunkler, es duftete nach Nadelholz, und hier und da flammten die ersten bunten Farben des Herbstes auf. Hin und wieder durchbrach das ferne Krächzen eines Rabens die Stille.
    Sogleich fühlte sich Luc an die Märchen erinnert, die Nana ihm vor langer Zeit erzählt hatte, von verwunschenen Wäldern, in denen Zauberer in Bäumen lebten, in denen verirrte Kinder Jahrhunderte lang umherliefen und nie älter wurden und Feen zum Schutz unter Giftpilze krochen. Ein solch mystischer Ort schien es zu sein. Eine verlorene, einsame Gestalt, in einen Umhang gehüllt, das Gesicht unter einer schwarzen Kapuze verborgen, kämpfte sich durch das Gewirr von Ästen und Ranken und versuchte sich über den Teppich aus trockenem Laub und Nadeln einen Weg zu bahnen. Bei jedem Schritt stieg der Duft von Tannennadeln auf. Klein und schlank war sie, ihre Bewegungen weiblich, anmutig, stark. »Sybille«, flüsterte er mehr zu sich. »Mutter, wo ist sie?« Luc versuchte, sich aus der Umarmung seiner Mutter zu lösen, und merkte, dass er festgehalten wurde. Zum ersten Mal wob sich ein Faden der Furcht, zart wie das Netz einer Spinne, um sein Herz.
    Er stemmte sich mit aller Kraft gegen sie, sein Gesicht lief rot an, Schweißperlen traten ihm auf die Stirn, seine Armmuskeln begannen vor Anstrengung zu zittern und gaben schließlich nach. Noch immer hielt ihn seine Mutter so fest, dass er sich kaum regen konnte. »Verirrt«, wiederholte Beatrice voller Kummer, und als sie fortfuhr, tat sie dies mit verzerrter Stimme, der tiefen Stimme eines Mannes. »Sie hat sich verirrt, ebenso wie deine Mutter, in einer Welt des Wahnsinns.« »Nein«, flüsterte Luc heiser, doch bereits während er es aussprach, überwältigte ihn die Furcht. Es stimmte, er hatte Angst, hatte schon immer, sein Leben lang, insgeheim die tiefe Furcht gehabt, er könnte seine Geliebte, wenn sie sich schließlich begegneten, in den Wahnsinn treiben ... wie er seine angebetete Mutter wahnsinnig gemacht hatte.
    Ein Bauernmädchen mit einem dicken schwarzen Zopf, das mit den Armen rudert in dem Augenblick, als es das Gleichgewicht verliert und schreiend vom schmalen Rand des Wagens fällt...
    Allein dein Blick hat sie in den Wahnsinn getrieben, wie deine Mutter ...
    Da erkannte Luc, wie Recht sein Onkel gehabt hatte: Nur wenn er imstande wäre, sich innerlich von seiner Mutter zu lösen, würde er stark genug sein, gegen seine Furcht um Sybille anzukämpfen. Anhänglichkeit ist keine Liebe, hatte Edouard ihm einmal erklärt. Echte Liebe entspringt einem Mitgefühl, das nie zu Kummer führt, doch Anhänglichkeit, die deinem Verlangen nach Sicherheit entspringt, ist eine Lalle.
    Jetzt war er, Luc, in eben dieser Falle gefangen und hatte sich in seiner eigenen Furcht verstrickt, und niemand anders als der Feind hatte das Netz ausgeworfen. »O ja, mein Liebling«, flüsterte Beatrice mit ihrer unwirklichen, fast männlichen Stimme. »Das ist der Fluch, den du über die Frauen bringst, die dich lieben. Möchtest du sehen, was du ihr angetan hast?«
    Die verhüllte Gestalt drehte sich zu ihnen um und spottete mit einer anderen, tiefen Stimme - einer Stimme, die Luc wohl kannte, aber nicht zuordnen konnte: »Kennst du mich nicht, Luc? Denn ich kenne dich, deine Mutter, deinen Onkel und die Frau, die deine Träume heimsucht, sehr gut ... Ich bin deine wahre Geliebte, denn ich allein wünsche dir, dass du deine schönste, deine heiligste Bestimmung erfüllst.«
    »Lass Sybille und meine Mutter frei«, forderte Luc. »Lass sie gehen - nur ein Feigling würde in dieser Weise angreifen. Du wolltest immer nur mich, nun, dann zeige dich und lass es uns allein austragen.«
    So sprach er, obwohl er sich der drohenden Gefahr, in der er schwebte, nur zu bewusst war, denn um der beiden Frauen willen, die er liebte, durfte er nicht vor ihr davonlaufen. Wenigstens kann ich sie retten, wenn schon nicht mich ... Er würde sich dem Tod stellen, wenn er damit Sybille retten konnte.
    »Ja, rette sie, Luc«, spottete der Feind durch Beatrices Mund, »und ich werde dir das Gesicht deines Erzfeindes zeigen, das Gesicht, in das deine schöne Sybille beim besten Willen nicht schauen konnte.«
    Langsam und bedächtig ließ die
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