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Kalogridis, Jeanne - Die Seherin von Avignon

Kalogridis, Jeanne - Die Seherin von Avignon

Titel: Kalogridis, Jeanne - Die Seherin von Avignon Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Unbekannter Autor
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Moment bereits tot waren.
    So weit das Auge reichte, sah Luc nur Blut, hörte die Schreie und das Todesröcheln der Ritter und ihrer Pferde, den Gesang vibrierender Holzpfeile, die ihr Ziel getroffen hatten. Dennoch erlaubte er sich nicht, Furcht zu empfinden. Und obwohl er seinen Vater nicht sehen konnte, behielt er dessen Bild in dem goldenen Schutzkreis vor seinem inneren Auge und spürte erleichtert, dass der alte Mann in Sicherheit war. Luc war ebenso geschützt. Pfeile zischten gefährlich nahe an seinem Helm, seinem Körper und am Rumpf seines Pferdes vorbei, das keine Rüstung trug, bohrten sich aber nur in den Boden oder in einen Unglücklichen hinter ihm, ob Franzose oder englischer Soldat, der zufällig unter Beschuss seiner eigenen Bogenschützen geraten war. Während Luc weiterkämpfte, unfähig, die vorwärts stürmende Linie der englischen Fußsoldaten zu durchbrechen, wurde er sich des Sterbens ringsum bewusst, der Wirkungskraft der Langbogen: Es lagen so viele gefallene Franzosen, Männer einschließlich ihrer Tiere, auf dem verwüsteten Feld, dass selbst die anstürmenden Engländer stolperten. Dennoch erlaubte Luc sich nicht einen Moment daran zu zweifeln, dass sein Vater, der offenbar ein Stück von ihm entfernt kämpfte, in Sicherheit war.
    Denn damit hätte er Pauls Leben aufs Spiel gesetzt. Da brachen die Franzosen um ihn her in verzweifeltes Geschrei aus: »Zurück! Zurück! Sie töten uns alle!«, und Luc spürte, ohne hinter sich schauen zu müssen, wie sich Hunderte, Tausende Männer in Bewegung setzten und zurück in die befestigte Stadt flohen. Er aber blieb, entschlossen, seinen Mann zu stehen, bis König oder Vater ihm den Rückzug befahlen. Wie konnten sie eine Niederlage eingestehen, wo der Schwarze Prinz nicht halb so viele Männer hatte, und wie konnten seine Landsleute es zulassen, dass eine solche Schande über ihren König kam? Tief in seinem Herzen wusste er, dass auch sein Vater ausharrte.
    Stundenlang kämpfte Luc, bis weit über die Mittagszeit hinaus, als die Sonne längst die letzten Nebelfetzen vertrieben und seine Rüstung so aufgeheizt hatte, dass die Kleider darunter in Schweiß getränkt waren. Sein Pferd taumelte, vor Durst und weil der Boden inzwischen von Leichen übersät war, sodass das Tier über sie hinwegtrampeln musste, wollte es sich vorwärts bewegen. Lune zuliebe stieg Luc ab und ließ das treue Pferd laufen, das sofort zur Stadt davongaloppierte, zu einer Weide, auf der andere reiterlose Pferde grasten.
    Luc aber kämpfte zu Fuß weiter, nur mit Mühe das Gleichgewicht bewahrend. Doch auch den Engländern erging es nicht besser, die sich wegen ihrer viel minderwertigeren Handwaffen und ihrer spärlichen Rüstung offenbar auf ihre Bogenschützen verließen, um im Vorteil zu bleiben.
    Erneut sah sich Luc in ein Scharmützel verwickelt. Ein großer, bleicher Fußsoldat mit verbeultem Helm taumelte auf ihn zu, eine rostige Axt schwingend. Unwillkürlich - denn im Kampf bleibt keine Zeit für Überlegungen - hob Luc sein Schwert, fing den Schlag ab und zuckte vor dem Funkenregen zurück.
    ... Da schrie hinter ihm jemand auf, sanft und leise, fast unhörbar vor dem Schwertergeklirr, den Siegesrufen und den Schreien der Sterbenden, doch Luc hörte es. Eindeutig ein weiblicher Laut, seltsam vertraut, und er drehte sich um.
    Wenn sie stirbt, werde auch ich sterben ... Weder Traum noch Zauber hatte ihn auf das Erlebnis vorbereitet, sie leibhaftig vor sich zu sehen, kein Kind mehr mit langen Zöpfen, sondern eine verschleierte, kniende Frau mit einem herzförmigen Gesicht, das für ihn der Inbegriff von Schönheit war, das Gesicht der Göttin selbst, die Gestalt, auf deren Anblick er jahrelang gewartet hatte. In einem glücklichen Moment der Hingabe - so kurz, dass er nicht einmal Zeit hatte, zu sprechen - erkannte er sie, blickte ihr in die Augen. Erkannte Sybille, und trotz der Gefahr, in der er schwebte, schwächte er frohen Herzens seinen goldenen Schutzkreis, um ihn um sie neu zu ziehen und ihr so das Leben zu retten.
    Da traf ihn die Axt - eine Urkraft, grausam und unerträglich -, spaltete ihm Körper und Geist, sodass nur noch Schmerz existierte, dann eine plötzliche Kälte, die alles Leiden auslöschte, alles körperliche Empfinden. Er schwebte, frei und glückselig, und schaute zum strahlend blauen Himmel empor. Ein Schwärm schwarzer Vögel stieg über ihm auf, oder wurde ihm schwarz vor Augen? Oder noch schlimmer, war es ein Schwärm englischer Pfeile?

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