Kalogridis, Jeanne - Die Seherin von Avignon
seiner Verzweiflung. »Es geht um Euer Leben, um das Fortbestehen Eures Geschlechts ... Ihr könnt Euch nicht aus Kummer Eurem Schicksal entziehen.«
Traurig schüttelte sie den Kopf. »Mein Schicksal ist es, hier zu bleiben und Euch den Rest meiner Geschichte zu erzählen, ehe ich zum Scheiterhaufen gehe.«
»Ehrwürdige Mutter, nein ...« Dem Weinen nahe kniete er vor ihr wie vor der Jungfrau, flehte sie an, betete ... »Bitte, lasst mich Euch helfen, zu fliehen ...«
Sie legte ihm die geschwollene Hand auf den Kopf und rang sich ein schwaches Lächeln ab. »Ihr könnt mir helfen, Bruder. Ihr könnt Euch den letzten Teil meiner Geschichte anhören, denn es ist mir bestimmt, sie zu erzählen, und Euch, sie zu hören, bevor unser Schicksal besiegelt ist. Dies ist meine einzige Hoffnung, dass einer unseres Geschlechts die ganze Wahrheit anhört und sich erinnert. Wollt Ihr das für mich tun?«
»Wenn es denn keinen anderen Weg gibt«, sagte er.
T eil VI - SYBILLE
AVIGNON Oktober 1357
XVIII
Wie durch ein Wunder hatte Edouard sein Pferd wieder gefunden und zog mich hinauf. Meine Beine waren zerschmettert, und ich blutete. Das weiß ich nur, weil er es mir später erzählte, denn die Schmerzen waren übermächtig. Ich war von der Göttin verlassen und fast von Sinnen, sodass ich nur noch Lucs Namen schreien konnte. Mühsam versuchte ich, die Wange an die schweißgetränkte Pferdedecke gedrückt, vom Rücken des Pferdes zu gleiten, um zu meinem Geliebten zurückzukehren, doch Edouard hielt mich fest.
Dann immer und immer wieder das Klirren von Metall so nah an meinen Ohren, dass mir der Kopf dröhnte. Stundenlang ging das so. Wie verfluchte ich in jenen Stunden, dass ich mich selbst nicht zu heilen vermag ... Vor Schmerz halb ohnmächtig, versuchte ich, Luc mit Hilfe der Gabe zu sehen, zumindest seine Nähe zu spüren, zu erfahren, ob mein Kampf um sein Leben erfolgreich gewesen war. Doch nichts. Nichts. Ich wusste nicht, ob er lebte oder tot war. Schließlich verlor ich vor Schmerzen das Bewusstsein.
Als ich wieder zu mir kam, befand ich mich in einer Herberge weit entfernt von Poitiers. Edouard und Geraldine saßen zu beiden Seiten meines Bettes.
Lächelnd schaute ich zu Geraldine auf und war wirklich froh, sie wieder zu sehen. Doch ihr sonst so liebevolles Gesicht war angespannt, und in ihren Augen lag so viel Zorn, so viel Kummer, eine so tiefe Enttäuschung über mich, dass mir das Lächeln verging und ich vor Furcht leise aufschrie. Denn als ich gleich darauf voller Sorge mein Zweites Gesicht wieder auf meinen Geliebten richtete, als ich mich bemühte, zu spüren, wo er gerade war, empfand ich ...
Nichts. Fast nichts. Hatte ich ihn zuvor klar und deutlich wie eine helle, flackernde Flamme gesehen, spürte ich in jenem Augenblick nur den letzten Rauchfaden eines erlöschenden Dochtes. Es ist der Geist seiner Seele, dachte ich und begann bitterlich zu weinen.
»Ja, weint nur«, sagte Geraldine ohne jegliches Mitleid. »Weint, denn der Feind hat Lucs Seele eingekerkert, und nur Ihr könnt ihn jetzt noch erlösen. Weint und schwört bei der Göttin, dass Ihr Euch nie wieder direkt dem Feind entgegenstellt, bis Ihr Eure größte Furcht bewältigt habt. Erst dann könnt Ihr Euren Geliebten aus seinem Elend erlösen.«
Ich dachte daran, dass der Feind an all jenen furchterfüllten Seelen wächst, die er verschlingt, an all jenen, die er bereits verschlungen hat, um seine Macht zu vergrößern. Da hörte ich auf zu weinen und schwor: Ich würde niemals zulassen, dass der Feind Besitz ergriffe von der Seele meines Geliebten oder seiner Magie.
Und so kehrte ich ins Kloster zurück und wurde viele Monate lang von Geraldine und Marie Magdeleine gepflegt. Oft drohten mich Kummer und Niedergeschlagenheit zu überwältigen, ebenso wie das Gefühl der Schuld darüber, meinem Herzen und nicht der Göttin gefolgt zu sein. Meine Dummheit, meine Hybris hatten meinen Geliebten alles gekostet, doch ich verdrängte das Selbstmitleid. Es gab für mich nur ein einziges Ziel: seinen Geist aus den Fesseln des Feindes zu befreien. In dieser Zeit arbeitete ich unter Geraldines Anleitung sorgfältig daran, meine Gabe wiederzuerlangen, doch sosehr ich mich auch anstrengte, ich konnte weder den Feind noch Luc sehen, spürte nur den gespenstischen Hauch seiner Nähe wie Rauch, der von einem erloschenen Feuer aufsteigt. Monatelang konnte ich nicht ohne Hilfe gehen. Doch ich ließ meinen Geist schweifen, durchsuchte mit Hilfe des Zweiten
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