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Kalogridis, Jeanne - Die Seherin von Avignon

Kalogridis, Jeanne - Die Seherin von Avignon

Titel: Kalogridis, Jeanne - Die Seherin von Avignon
Autoren: Unbekannter Autor
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Gesichts die weite Welt.
    Luc de la Rose ... Wo bist du? Freunde, Templer, hat jemand von euch Luc de la Rose gesehen, in diesem Leben oder im nächsten?
    Aber niemand hatte ihn gesehen. Selbst Edouard, der in unserem Konvent in der Verkleidung eines Mönchs Unterschlupf gefunden hatte, konnte seinen Neffen, dem er so tief verbunden war, nicht aufspüren.
    »Er ist tot«, weinte er. »Vielleicht hätte ich bei ihm bleiben sollen, vielleicht ...« Doch dann kam er wieder zur Vernunft und erinnerte sich daran, dass ich sehr wahrscheinlich gestorben wäre, wenn er mich nicht gerettet hätte.
    Die Zeit verging. In den Tiefen des Klosters wandte ich, umgeben von meinen Schwestern und Edouard, all meine Kraft auf - vergebens. Es hatte den Anschein, als sei die Seele meines Geliebten vollständig verschlungen worden. In der gleichen Zeit arbeitete ich im Kreis daran, mich dem zukünftigen Feind zu stellen, dieser Leere aller Leeren, die ich das erste Mal während meiner Weihe gesehen hatte. Doch sobald das Bild Form anzunehmen begann, schrie ich vor Entsetzen auf und wollte nichts mehr sehen, obwohl ich wusste, dass er außerhalb der Sicherheit des Kreises auf mich wartete. Für diese Feigheit finde ich keine Entschuldigung.
    Dann, nach mehr als einem Jahr der Suche, des Hoffens, der ständigen Misserfolge, saß ich eines Nachmittags im Klostergarten und ruhte mich von der Arbeit aus. In der Luft lag an jenem Tag schon herbstliche Kühle, doch in der Sonne war es angenehm. Ich schloss die Augen und legte den Kopf in den Nacken.
    Nach der körperlichen Anstrengung - ich hatte mich so weit erholt, dass ich wieder gehen und fast normal arbeiten konnte - und in der entspannenden Wärme der Sonne kam eine tiefe Ruhe über mich, eine Ruhe, die mir in den Monaten meiner verzweifelten Suche nach Luc gefehlt hatte. Dort im Garten, der nach kühler, fruchtbarer Erde duftete und in dem Erbsenranken und das gefächerte Grün des Lauchs prangten, wurde mir das Wissen zuteil, dass die Seele meines Geliebten zwischen Gut und Böse schwankte. Jetzt war die entscheidende Krise gekommen, jetzt war die Zeit, da er seine Gefährtin am meisten brauchte, sollte sein eigentliches Wesen nicht vom Feind verschlungen werden.
    Doch mein Zweites Gesicht war schwach, ich hatte nicht die Kraft, ihn zu finden und ihm beizustehen. Voller Demut meines Fehlers gedenkend, betete ich zur Göttin: Ich will mich Dir ergeben. Dir überlasse ich Kummer und Furcht und Hoffnung, Herz und Seele. Ich will sogar die Suche nach meinem Geliebten aufgeben, bis zu dem Zeitpunkt, da es Dein Wunsch ist, ihn mir zu offenbaren. Ich lege mein Grauen vor dem Feind ab, der da kommen wird. Was ich auch immer für meine Bestimmung hielt, lege ich in deine Hände.
    Unterwürfig neigte ich den Kopf, doch die Wärme der Sonne blieb auf meinen Wangen, ja, sie breitete sich in mir aus, als nähme mich die Göttin in ihre Arme. Ich war mit einem Mal von so tiefem Mitgefühl erfüllt, dass in meinem Herzen kein Raum mehr für andere Empfindungen
    In diesem Zustand der Wonne, der absoluten Hingabe und Hinnahme kehrte ich in Gedanken zu dem Augenblick meiner ersten Weihe zurück, als Jakob neben mir gestanden hatte und wir eine dunkle, wirbelnde Kugel beobachteten, in der die Gesichter all jener auftauchten, die dem Geschlecht angehörten und ihr Erbe verleugnet hatten. Darin lauerte das Grauen auf mich, das ich damals außerhalb des ersten Kreises mit Noni gespürt hatte: die Leere aller Leeren, die Negation der Negation, die Summe aller Hoffnungslosigkeit.
    Und wieder vernahm ich Jakobs tiefe, herrliche Stimme: Sie fürchten sich vor dem, was sie sind. Das Tragische daran ist, Herrin, dass die meisten von ihnen Gutes tun wollen. Doch selbst eine so mächtige Kraft wie die Liebe kann letztlich nur zu Bösem führen, wenn sie von Furcht vergiftet ist.
    Ach, wie gut ich jetzt diese Worte verstand, denn meine ängstliche Liebe hatte meinem Luc nichts als Leid gebracht. Jakob war in jenem Augenblick wieder bei mir, wie vor langer Zeit, in der Nacht meiner Weihe, und ich spürte seine Liebe und seine Unterstützung, während wir gemeinsam in das unheimliche, wirbelnde Nichts starrten ... Das sich abrupt weiter leerte.
    Entsetzen drohte mich zu überwältigen, so wie jedes Mal bisher im Angesicht des Feindes. Doch diesmal harrte ich aus, mein Herz tief im Mitgefühl der Göttin verankert. Diesmal ruhte ich in Ihrer Stärke, in Jakobs, in meiner, und blickte unverwandt in die Leere, während
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