Kalogridis, Jeanne - Die Seherin von Avignon
sich dort ein Bild formte.
Das Bild eines Mannes, dessen Gesicht von der Kapuze seiner weiten Kutte verhüllt war. Ich sah, wie er die Hände hob, wie seine weiten Ärmel zurückglitten und muskulöse, aber blasse Arme entblößten, wie er langsam die Kapuze vom Kopf schob. Finsternis bedeckte seine Züge, doch als er die Kapuze zurückschlug, hob sich der Schatten allmählich wie ein Schleier und entblößte zuerst ein eckiges Kinn, feste Lippen, starke Wangen, blasse Augen. Ein gut aussehender Mann, dieser zukünftige Feind, dessen offener Gesichtsausdruck auf keinerlei Arglist schließen ließ, doch seine Haltung und sein Blick zeugten von erhabener Macht. Schon bald würde er der Mächtigste unseres Geschlechts sein, mächtiger sogar als ich. Er würde den alten Feind ersetzen und danach trachten, uns alle zu vernichten. Denn er war einer aus dem Geschlecht, verfügte über eigene, furchteinflößende Magie, und sobald der alte Feind gestorben wäre, würde er dessen aus all den gestohlenen Seelen geraubte Macht in sich aufnehmen und seinen eigenen Kräften hinzufügen.
Auf diese Weise würde er der Furcht erregendste Feind werden, dem unser Geschlecht im Verlauf der Generationen seiner Existenz gegenübergestanden hatte. Dies war die Gefahr, die ich vor so vielen Jahren als junges Mädchen gesehen hatte, denn er war es, der die alles verzehrenden Feuer schicken würde, um uns alle auszulöschen.
Von jeher war es meine Bestimmung gewesen, ihm um jeden Preis Einhalt zu gebieten, mich ihm zu stellen. Noch bedeutete er keine Bedrohung. Noch nicht, aber bald ... Ich ließ nicht zu, dass Furcht bei seinem Anblick in mir aufkam, keine Schuldgefühle, kein Zittern. Nur Mitgefühl, Ruhe und ein erneuertes Gefühl für meine eigentliche Bestimmung.
Plötzlich lichtete sich der Nebelschleier vor meinen Augen, und zum ersten Mal seit einem Jahr sah ich ihn, den ich so verzweifelt suchte, ganz deutlich vor mir: einen jungen Mann in einem Turmzimmer, dessen Seele diesem neuen Feind ergeben war und der sehr bald schon vollständig verschlungen sein würde, wenn ich ihm nicht zu Hilfe käme. Unsägliches Grauen packte mich, zugleich verspürte ich jedoch auch Erleichterung, freudige Erregung, strahlende Liebe.
»Er lebt«, flüsterte ich, doch nur die Göttin hörte es. Er lebt, lebt in Avignon, der Herr unseres Geschlechts, mein Geliebter, mein Luc de la Rose. Lebt in Avignon, in der Höhle des alten und neuen Feindes, wo unser gemeinsames Schicksal unser harrt. Er war ihrer beider Gefangener, seine Macht war ihm genommen, sein Geist fest in ihrem Griff.
War ich einem Gefühl der Furcht um meinen Geliebten folgend nach Poitiers gegangen, brach ich nun auf Geheiß der Göttin nach Avignon auf. Aber war mein Herz deshalb weniger beteiligt? Weniger gepeinigt bei dem Gedanken an meinen Geliebten, der bald verloren sein würde, verleitet vom Feind? Nein. Doch ich war verpflichtet, nur aus Mitgefühl zu handeln, nicht aus selbstsüchtiger oder ängstlicher Liebe.
Der Feind war im Vorteil, denn er hatte den Herrn des Geschlechts in seiner Gewalt, doch da ich mich endlich meiner letzten Furcht gestellt hatte, waren wir gleich mächtig. Zuweilen würde ich ihn deutlich spüren können, dann wieder nicht. Aber ich wusste, wie wichtig es war, in der Nähe der Göttin zu bleiben, da er sonst in der Lage wäre, mich zu spüren.
Tag und Nacht ritt ich allein und verlieh meinem Pferd übernatürliche Kraft und Sicht. Den Templern sagte ich nichts, doch diejenigen, die empfänglich für die leisen Töne der Göttin und die Winke des Schicksals waren, folgten mir für den Fall, dass sie sich als dienlich erweisen könnten.
Ich sah nicht, wie es enden würde. Denn schließlich war ich dem Feind in unserem Wettstreit ebenbürtig und der Ausgang des Unternehmens ungewiss, ebenso wie die Entscheidung meines Geliebten. Die Gefahr, in der Luc und ich schwebten, war groß, doch ich überließ unser Schicksal der Göttin und ritt rasch zur heiligsten Stadt Frankreichs.
Was gibt es sonst auch über diese Stadt zu sagen? Sie ist Himmel und Hölle. Nie zuvor bin ich durch schmalere, schmutzigere Straßen geritten, habe nie zuvor mehr Huren, Straßenräuber, Bettler und Scharlatane auf einem Fleck gesehen. Es heißt, in Avignon gebe es so viele Reliquienschreine mit einer Locke von Magdalena, dass ihre Haare aneinander gelegt bis nach Rom reichen würden, und so viele Finger, die dem heiligen Johannes zugeschrieben würden, dass er
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