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Kalogridis, Jeanne - Die Seherin von Avignon

Kalogridis, Jeanne - Die Seherin von Avignon

Titel: Kalogridis, Jeanne - Die Seherin von Avignon
Autoren: Unbekannter Autor
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Seele.
    Dieser Hass hatte Lucs Mutter Beatrice de la Rose in den Wahnsinn getrieben, als er ihn gegen sie gerichtet hatte. Hatte ihn mein plötzliches Auftauchen erschreckt? Ich vermochte es nicht zu beurteilen. Doch auf seinem Gesicht lag ein Ausdruck der Schadenfreude, des gemeinen Stolzes, der zu besagen schien: Jetzt hast du gesehen, was ich deinem Geliebten angetan habe. Du hast ihn für immer verloren und bist nun selbst in meinen Händen ... Wer ist jetzt der Mächtigere?
    Er erwartete, dass ich aus Gram über das, was er Luc angetan hatte, weinen würde, dass ich voller Furcht wäre angesichts dessen, was mir bevorstand. Doch in meinen Augen waren keine Tränen.
    Stattdessen zwang ich mich, an der göttlichen Nähe festzuhalten und ihn anzulächeln. Es gelang mir sogar, ihn zu lieben. Er las es in meinen Augen, und es versetzte ihn in Wut. »Endlich, Euer Eminenz«, sagte ich, »begegnen wir uns leibhaftig.«
    »Ihr werdet dafür bezahlen, Mutter«, drohte er. Und als er den Mund öffnete, stellte ich mir vor, wie er meinen Geliebten, Stück um Stück, verschlang, sein eigentliches Wesen fraß, während ich - machtlos und doch lächelnd - neben ihm stand. »Ihr habt Euch gerade vor Hunderten von Zeugen der Hexerei schuldig gemacht.« Er wandte mir den Rücken zu, befahl den beiden Wachen, die mich hergeführt hatten, ihm zu folgen.
    Ich musste mit ihnen gehen, doch in Gedanken war ich bei den beiden Krähen, die noch auf dem Podium saßen - bei dem Gefangenen, der auf dem Scheiterhaufen kniete, während die Holzscheite um ihn herum Feuer fingen. Mir brach das Herz. Es blieb so wenig Zeit, bis Lucs Seele endgültig verloren wäre, und ich konnte es kaum ertragen, von ihm getrennt zu werden, nachdem ich ihn wieder gesehen hatte. Doch die Göttin sprach: Um ihn zu retten, musst du ihn jetzt verlassen.
    Mir blieb keine Wahl. So war es mir nicht gegeben, das Ende zu sehen. Unter Qualen entfernte ich mich von ihm, doch durfte ich mich meinem Schmerz nicht überlassen, nur der Freude.
    Nie hatte ich geahnt, was für ein schweres Schicksal mir bestimmt war.
    Seine Eminenz der Kardinal führte uns durch eine Seitentür in den Papstpalast.
    Es heißt, der Palast sei das gewaltigste und prächtigste Gebäude der Welt, und es stimmte. Ich ging durch lange Korridore, durchquerte ein Zimmer nach dem anderen, und wohin ich auch blickte, alles war von Meisterhand geschaffen, seien es die Fliesen unter meinen Füßen, oder die mit Blattgold verzierte Decke über meinem Kopf. Clemenz, der Vorgänger des jetzigen Papstes, war wegen seiner immensen Ausgaben zu Lebzeiten viel gescholten worden, und nach seinem Tode noch mehr. Bestimmt hatte er allein dem Maler Giovannetti ein Vermögen für die Jahre bezahlt, die er im Palast gearbeitet hatte. Im Vorübergehen entfalteten sich vor meinen Augen an den Wänden Bibelszenen und glitzernde Mosaike von Rittern zu Pferde, die Fabelwesen in Gärten voller Fantasieblumen verfolgten, während Heilige und Engel von oben herabschauten.
    Obwohl ich von Glanz und Schönheit umgeben war, sah ich doch nur das Böse und die Fäulnis dahinter, spürte das Leid der gequälten Seelen.
    Die Wachen geleiteten mich schweigend zu einem Privatgemach - so schien es mir, denn die Tür war geschlossen. Der Pfau klopfte einmal laut an und öffnete sie dann mit dem Ausdruck unendlicher Zuversicht.
    Rasch trat er ein. Hinter uns wurde die Tür geschlossen. Das Zimmer war kleiner als die Räume, die ich bisher gesehen hatte, aber nicht weniger prächtig: Wandgemälde mit ländlichen Jagdszenen und nackten Badenden.
    Dort auf den Samtkissen eines großen, vergoldeten Stuhls neben einem Schreibpult saß ein alter Mann, Papst Innozenz VI., wie mir die Göttin eingab.
    Ich begriff nicht, warum mein Feind mich hierher gebracht hatte, statt mich direkt in einen Kerker zu führen. Gewiss verfolgte er - wie auch die Göttin -ein Ziel.
    Nach fünf Jahren auf dem Thron und im Alter von fünfundsiebzig Jahren hatte Innozenz noch immer einen erstaunlich dunklen Bart. Statt der prächtigen Tiara trug er eine eng anliegende, karminrote Samtkappe, die ihm bis über die Ohren reichte. Seine Robe war aus schwerem, scharlachrotem Brokat und mit so viel Gold bestickt, dass sie bei der kleinsten Bewegung glitzerte. Ihr Gewicht schien ihn niederzudrücken.
    Der einst robuste Mann mit breiten Schultern und ausladendem Brustkorb war jetzt gebeugt, Brust und Bauch stark eingefallen. Seine Haut hatte einen ungesunden, gelben Farbton,
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