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Kalogridis, Jeanne - Die Seherin von Avignon

Kalogridis, Jeanne - Die Seherin von Avignon

Titel: Kalogridis, Jeanne - Die Seherin von Avignon
Autoren: Unbekannter Autor
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etwas zu sagen?«
    »Ja«, antwortete der Gefangene mit lauter Stimme. »Was Ihr als Gott anbetet, ist in Wahrheit ein Teufel, ein Dämon, der Eure Welt mit Furcht beherrscht und Eure Augen dem wahren Gott gegenüber blind gemacht hat ...«
    »Wachen!«, schrie der zukünftige Feind, und der Wächter, der den Gefangenen begleitet hatte, schlug ihn grob mit dem stumpfen Griff seines Schwerts.
    Der Schlag traf die linke Schläfe des Gefangenen und zerstörte ihm das Auge. Als er in rohem, barbarischem Schmerz aufschrie, brüllte die Menge der vornehmen Adligen, der wohlhabenden Kaufleute und der frommen Kirchenväter zustimmend auf.
    Der Kummer und die Empörung, die ich dabei empfand, bedrohten meine Ruhe, doch ich klammerte mich an das Mitgefühl der Göttin, ja sogar an Ihre Freude, und sah vor meinem geistigen Auge, was ich zu tun hatte. Ich stieg vom Pferd, flüsterte ihm einen magischen Befehl zu, und rannte durch die Menge, schneller und leichter, als es eigentlich möglich gewesen wäre. Mit geradezu übermenschlicher Gewandtheit bahnte ich mir einen Weg durch das Gedränge. Ja, ich blieb nicht einmal vor der Reihe der Wachposten stehen, die den Richtplatz lückenlos umstellten, sondern schlüpfte ohne weiteres zwischen ihnen hindurch. Sie bemerkten mich erst, als ich an der Seite des Gefangenen stand, als ich mich vorgebeugt hatte und sein zerquetschtes, blutiges Auge mit der Hand bedeckte und unsere beiden Seelen in der wilden, fröhlichen Gemeinschaft und Gegenwart der Göttin frohlockten.
    Lächelnd zog ich die Hand fort, und er lachte, aller Furcht und allen Zorns ledig, erfüllt nur noch von einzigartigem Entzücken.
    »Ein Engel hat mich gerettet«, sagte er glücklich, und über seine armen, gemarterten Züge ging ein freudiges Strahlen, während wir uns einen zeitlosen Augenblick lang ansahen. »Ein wahrer Engel, vom wahren Gott gesandt.«
    Die gerade noch lärmende Menge wurde still. Der Wächter, der zugeschlagen hatte, stand neben uns und war so verblüfft über die Heilung, dass er zu keiner Regung fähig war. Schließlich bekreuzigten sich einige und beteten leise. Manche riefen: »Ein Wunder! Er ist unschuldig!«, und: »Sie ist ein Engel!«
    Andere blieben still, die Gesichter angespannt vor Unsicherheit, vor Furcht. Rat suchend schauten sie zu den Männern auf dem Podium.
    Der Größte und Älteste - der Pfau, mein scharlachroter Feind - knirschte wütend mit den Zähnen und blickte auf mich und seinen Gefangenen herab. »Hört!«, rief er der Menge mit donnernder Stimme zu. »Er ist ein Ketzer der schlimmsten Sorte. Ihr habt mit eigenen Ohren gehört, wie er unseren geliebten Herrn Teufel nannte. Und sie, die ihn geheilt hat, ist nur seine Zaubergehilfin, eine Hexe, die gekommen ist, euch einzureden, er sei unschuldig.«
    »Aber Euer Eminenz ...«, hob einer der Dominikaner auf dem Podium an.
    »Ruhe!«, fuhr ihn Seine Eminenz an. Dann befahl er: »Wachen! Verhaftet sie und führt sie zu mir! Ihr anderen, fahrt auf der Stelle mit der Verbrennung fort.«
    Als ein Scharfrichter mit einer Fackel vortrat und die Flamme an das Reisig unter den Füßen des Gefangenen hielt, wurde ich von den Wachen fortgezerrt. Die Göttin gewährte mir nicht die Macht zu entkommen. In meinem Herzen lehnte ich mich dagegen auf, doch ich wusste, es war Ihr Wille, und ich hatte mich zu fügen, wollte ich nicht ein noch schlimmeres Unheil heraufbeschwören. Doch zunächst wehrte ich mich innerlich und rief meinem Geliebten zu: »Luc! Luc de la Rose, ich schwöre, ich werde einen Weg finden, dich zu erlösen!«
    Dann wurde ich hinter das Podium gestoßen, wo mein Feind, der Kardinal, bereits auf mich wartete. Er war breit und stämmig gebaut, ein eckiger Kopf auf einem eckigen Körper, und groß. Um ihm ins Gesicht schauen zu können, musste ich den Kopf in den Nacken legen. Die Haare unter seiner roten Kappe waren dicht, gelockt und grau, ein helles, rundes Muttermal verzierte einen Nasenflügel, und die Tränensäcke unter den rot geränderten Augen zogen die Unterlider herab, sodass ihn eine Aura der Schwermut umgab. Seine Gegenwart schien alle Freude, die Luft und das Licht selbst zu verschlingen. Es hatte eine Zeit gegeben, da hätte mich bei seinem Anblick Furcht ergriffen, doch jetzt empfand ich nur Erbarmen und Mitleid. Denn seine Macht entsprang allein seinem großen Selbsthass, einem Hass, der sich auch auf den Rest der Welt erstreckte; es war der Selbsthass und das angesammelte Elend einer verzagten
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