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Kalogridis, Jeanne - Die Seherin von Avignon

Kalogridis, Jeanne - Die Seherin von Avignon

Titel: Kalogridis, Jeanne - Die Seherin von Avignon Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Unbekannter Autor
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offensichtlich ein Ungeheuer gewesen sein muss, dem Gott ein Dutzend Arme gegeben hatte. Allerdings habe ich auch noch nie solche Pracht, solche Herrlichkeit und so viel Wohlstand gesehen. Bei meiner Ankunft ließ ich mich von der Göttin auf den großen Platz vor dem Papstpalast führen und beobachtete die prächtige Zurschaustellung von Putz: die Adligen in ihren Brokatstoffen und kanariengelber, pfauenblauer und purpurroter Seide, die päpstlichen Wachen in Uniformen, blau wie der breite Rhonestrom, die Kardinale mit weiß eingefassten, karminroten Hüten und in schneeweißen Pelzen.
    Mir gegenüber ragte das Palais des Papes auf, der Papstpalast, errichtet auf einem Felsen, der jäh zum Ufer der Rhone hin abfiel. Er war hoch wie eine Kathedrale, doch viel breiter, eigentlich ein königliches Anwesen, groß genug, mehrere Hundert Menschen zu beherbergen. Die massiven Mauern umschlossen Dutzende von großen und kleinen Türmen. Und vor dem Palast erstreckte sich ein großer öffentlicher Platz.
    Während ich auf den Papstpalast zuritt, bebte mein Pferd, als spürte es das Böse, das darin hauste. Da fiel mein Blick auf eine Tribüne.
    Ein Podium, errichtet für Inquisitoren, und davor ein Richtplatz. Sofort fiel mir das Gerüst ein, das ich vor so langer Zeit im heimatlichen Toulouse gesehen hatte, als ich gerade erst fünf Jahre alt war, ein Kind mit Zöpfen, und mit meiner Noni, Papa und Maman und unseren Nachbarn Georges und Therese auf einem Wagen gestanden hatte. Der Marktplatz war viel sauberer gewesen, mit weniger Menschen und längst nicht so prächtig.
    Denn in Avignon bildeten mehrere Reihen päpstlicher Wachen in stattlichen Rüstungen mit Eisenschwertern einen geschlossenen Ring um Podium und Hinrichtungsstätte. Das Podium selbst war sorgfältig errichtet, kein hastig aufgestelltes Holzgerüst, sondern eine Konstruktion aus fein bemaltem, vergoldetem Holz, verziert mit Schneckenformen, Ungeheuern und Heiligengestalten. Ein rotweiß gestreifter Baldachin war ausgerollt worden, um die auf gepolsterten, mit karminrotem Brokat bezogenen Stühlen Sitzenden vor den dunklen Wolken eines heraufziehenden Gewitters zu schützen.
    Das war Avignon: kranke Schönheit.
    Doch damit einher ging der überwältigende Gestank von Abfall, übler als alles, was ich je gerochen hatte, als verrotte die Stadt unter der glitzernden Schicht von Tand und Farbe wie eine prächtig herausgeputzte Leiche im Sommer. Und auf dem vergoldeten Podium saßen die Männer bequem auf den gepolsterten Stühlen. Zwei Krähen, wie meine Noni gesagt hätte, Dominikaner, in schwarzen Kutten, die Kapuzen zurückgeschlagen, sodass man das weiße Futter sah, und ein Pfau, ein großer Kardinal in einem Gewand aus blendend roter Seide, eingefasst mit weißem Hermelin an Hals, Ärmeln und Saum. In Anbetracht der Wichtigkeit seiner Mission hatte er zugunsten einer einfachen Kappe auf den breitkrempigen Hut verzichtet.
    Zwei Krähen und ein Pfau. Der Pfau war der Feind, und die gut aussehende, jüngere Krähe der zukünftige Feind.
    Endlich sah ich ihn vor mir, wie damals das Kind Sybille, als es auf dem Rand des Karrens balancierte: meinen Geliebten.
    Ein einzelner Gefangener war, angetrieben von einem Wächter, auf dem Weg zum Richtplatz. Ein junger Mann, nach monatelanger Kerkerhaft fast zum Skelett abgemagert. Behindert von Fesseln und Ketten an den Fußgelenken, vornübergebeugt, herabgezogen von schweren Ketten an seinen Handgelenken. So schwach er körperlich auch war, er besaß einen starken Geist, denn obwohl jeder hinkende Schritt, nicht größer als eine Handspanne, die reine Qual bedeutete, zeugte seine Haltung von Stolz.
    War er je hübsch gewesen? Gottes Zorn hatte so maßlos in seinen Zügen gewütet, dass man es nicht mehr zu sagen vermochte. Sein Nasenrücken war halb zerschmettert, in beängstigendem Winkel nach links abgebogen, die Haut an dieser Stelle war leuchtend violett. Seine Nasenlöcher und die Oberlippe waren blutverkrustet. Sein Anblick löste unaussprechliches Mitleid in mir aus, doch ich ruhte in der Göttin. Mit ihrer Kraft hielt ich mein Mitgefühl sowohl für den Inquisitor als auch für sein Opfer aufrecht und wartete, wartete auf Anweisung. Diesmal würde ich meinen Geliebten nicht in Gefahr bringen. Der Gefangene wurde zum Scheiterhaufen geführt und dort festgebunden. Reisigbündel wurden um seine Knie bis hinauf zu den Hüften geschichtet.
    Dann rief der Pfauenkardinal ihm eine unübliche Frage zu: »Hast du noch

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