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Kalogridis, Jeanne - Die Seherin von Avignon

Kalogridis, Jeanne - Die Seherin von Avignon

Titel: Kalogridis, Jeanne - Die Seherin von Avignon Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Unbekannter Autor
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rasierten, gut aussehenden jungen Mann mit flachsblonden Haaren, Augenbrauen und Wimpern und blassblauen Augen. »Vater Thomas!«, grüßte er ihn.
    »Wo ist denn dein ständiger Schatten?«, fragte Thomas aufgeräumt, doch Michel wusste, dass die gute Laune nur ein hartes Herz verbarg. Der grinsende Priester trug eine marineblaue Kutte mit burgunderroten Paspeln - gesetzte Kleidung im Vergleich zu der bestickten Kutte aus rosa Satin, in die er sich häufig in der dekadenteren Umgebung von Avignon kleidete. In dem eng anliegenden Ärmel steckte ein kleiner, blühender Zweig Rosmarin von einem der unzähligen wilden Sträucher des Languedoc. Thomas verkörperte für Michel den schlimmsten Teil der Priesterschaft: ein undisziplinierter, unreligiöser Bonvi-vant, der mehr an Frauen und Wein als an Gott interessiert war. Vor einem Jahr war er wie aus dem Nichts als einer von Chretiens Schützlingen aufgetaucht, und der Kardinal liebte ihn so abgöttisch, dass das Gerücht umging, der junge Mann sei sein unehelicher Sohn. Von Thomas' Vergangenheit war nichts bekannt, außer dass er offenbar eine ausgezeichnete Bildung genossen hatte und die Züge der französischen Aristokratie trug. Er hatte keine Einzelheiten über sich preisgegeben, und niemand wagte, Fragen zu stellen, denn wer Thomas verärgerte, riskierte auch, den Zorn Chretiens auf sich zu ziehen.
    Doch das Wohlwollen, das der Kardinal häufig gegenüber Thomas zeigte, änderte nichts an der Tatsache, dass nur Michel von Chretien als Sohn angenommen worden und somit Erbe des beträchtlichen Vermögens des Kardinals war. Das hatte Thomas dem jungen Mönch offenbar nie verziehen.
    »Vater Charles«, erklärte Michel, »ist derzeit krank.« Bei diesen Worten überkam ihn erneut großer Kummer, denn wenn Chretien sein Adoptivvater war, dann betrachtete er Charles, einen der Berater des Kardinals, sicherlich als Onkel und Vertrauten. Weitreichende Verantwortlichkeiten hatten Chretien gezwungen, die Erziehung seines Pflegesohns zunächst Nonnen, dann dem weisen, toleranten Charles zu überlassen. Kein anderer Mann stand Michel näher.
    Thomas' Lächeln verschwand sofort. »Gütiger Gott, ich hoffe, es ist nicht die Pest. Es hat einen kleinen Ausbruch gegeben in dem Dominikanerkloster, in dem mein Schreiber ...« Er musterte Michel mit zusammengekniffenen Augen. »Richtig, du und Vater Charles wohnt doch auch dort, oder?«
    Michel nickte, und dieser knappen Geste entnahm Thomas, wie ernst es um Charles stand.
    »Der arme Teufel«, murmelte der junge Priester, um dann nachdrücklich hinzuzufügen: »Ich hoffe nur, dass es dir gut geht, Bruder Michel.«
    »Mir geht es gut«, versetzte Michel.
    »Dem Himmel sei Dank.« Thomas nickte beifällig, und sein Tonfall wurde wieder nüchtern. »Gott muss einen Plan haben. Mir fehlt ein Schreiber, dir ein Inquisitor.«
    Er machte einen Schritt auf den Eingang zu, doch als Michel zögerte, drehte er sich zu ihm um. »Was ist, Bruder?« »Die Äbtissin«, entgegnete Michel, erstaunt und betroffen darüber, wie leicht es ihm fiel, das Gespräch in seinem Sinne zu lenken. »Sie hat gestern von sich aus angeboten zu gestehen, allerdings nicht die vorbereitete Erklärung.«
    »Und Vater Charles hat ihr diese Möglichkeit natürlich eingeräumt«, führte Thomas den Gedankengang zu Ende; es war keine Frage.
    Bekümmert schüttelte Michel den Kopf. »Sie sagte, sie wolle nur mir gestehen - allein. Es ist nicht richtig, ich weiß. Ich bin kein Priester. Doch obwohl es ihr vom Gesetz her zustand, wurde ihr nicht eingeräumt ...«
    Vater Thomas hob eine hellblonde Augenbraue. »Ein ernstes Problem also«, begann er ruhig, »denn der Bischof und - sollen wir ehrlich sein? - dein Vater wollen sie sehr bald als schuldig überführt sehen. Wenn wir behaupten, sie weigere sich zu reden - die Stimmung unter den Leuten ist ohnehin schlecht genug, ebenso gegenüber Rigaud. Das Volk ist erzürnt, weil er die Äbtissin verhaften ließ, und wenn die Leute erst glauben, dass Rigaud sie ohne ein rechtmäßiges Verfahren zum Tode verurteilt hat, wird es zu Unruhen kommen.«
    Nach kurzer Überlegung fuhr er fort: »Bruder ... Ich habe gehört, dass du die Ausbildung beendet hast, um demnächst zum Priester und Inquisitor geweiht zu werden.«
    »Ja, Chretien hat darauf bestanden.« Michel wollte weiterreden, doch Thomas bedeutete ihm mit einer Handbewegung, zu schweigen, und obwohl er den Blick nach innen kehrte, ruhten seine Augen weiterhin auf dem Mönch.

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