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Kalogridis, Jeanne - Die Seherin von Avignon

Kalogridis, Jeanne - Die Seherin von Avignon

Titel: Kalogridis, Jeanne - Die Seherin von Avignon Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Unbekannter Autor
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Glückshaube über dem Gesicht geboren. Meine Großmutter, deren wunderbare Hände mich und Hunderte andere auf diese Welt holten, behauptete, das zeichne mich als eine derer aus, die über die Gabe des Sehens verfügten. Die Priester und Inquisitoren meinen, es weise mich als eine Person aus, die mit dem Teufel paktiert. Ich bete ihren Teufel nicht an. Auch ihre Götter verehre ich nicht - Jesus, Jehova, den Heiligen Geist -, aber ich respektiere sie, denn alle Götter sind eins. Ich verehre die Große Mutter, die von vielen Diana genannt wird und deren geheimen Namen die Inquisitoren nie erfahren werden. Wenn mich das zu einer Hexe macht, wie sie es verstehen, nun gut, dann bin ich eine Hexe, ebenso sicher wie sie Christen und Mörder sind.
    In meinem Leben haben sich schreckliche Dinge zugetragen. Ich habe Hunger und Pest und Krieg kennen gelernt, doch das schlimmste Leid war das nutzloseste - nutzlos, weil es nicht von der Launenhaftigkeit eines Gottes hervorgerufen wurde, sondern von menschlicher Unkenntnis, menschlicher Furcht. Es fällt schon schwer genug, wenn man gezwungen ist, nach außen hin eine Religion anzunehmen und sich vor Göttern zu verneigen, die man nicht verehrt. Doch wie viele Unschuldige sind gefoltert worden, und viele sind in den Flammen umgekommen - die Dienerinnen der Göttin, unter welchem Namen sie Sie auch immer kannten, und die Juden, und selbst gläubige Christen, die den Fehler begingen, die Mächtigen zu erzürnen. Jede Frau, die es wagte, das überlieferte Wissen um Kräuter und Zauber anzuwenden, um Kranke zu heilen, ein Kind zur Welt zu bringen, und die dumm genug war, es auch noch zu gestehen, erwartete ein grausames Schicksal. So viel Wissen, das für immer verloren ist ... Unsere Folterknechte haben unzählige Lügen über die Dienerinnen der Göttin verbreitet, damit alle, die ihnen lauschen, irregeleitet werden. Mir ist inzwischen klar geworden, dass selbst die Inquisitoren keine Ahnung haben, wie groß ihr Irrtum ist. Wer die Wahrheit kennt, wagt es nicht, sie auszusprechen, aus Angst vor der Wippe oder dem Scheiterhaufen. Die Inquisition hat uns alle zum Schweigen gebracht.
    Daher erzähle ich hier meine Geschichte. Einiges habe ich selbst erlebt, einiges wurde mir von anderen berichtet, manches weiß ich durch meine Sehergabe. Ich sage die Wahrheit, soweit ich sie kenne, ohne mich vor Vergeltungsmaßnahmen zu fürchten, denn ich habe gelebt und viel gelitten und weiß, welches Ende mich erwartet. Doch ich habe Angst um die Dienerinnen der Göttin, die mir folgen. Selbst jetzt sehe ich - mit Ihren Augen, nicht mit meinen -, dass die Flammen immer höher schlagen. Das Schlimmste steht uns noch bevor. Sie haben meinen Geliebten eingefordert, ihn, der meine Bestimmung war. Jetzt bin nur noch ich da und erkenne voller Bitterkeit, dass mein Zauber allein nicht ausreicht, das drohende Unheil abzuwenden.
    Anders als die Christen bete ich nicht darum, dass meine Geschichte mich in diesen gefährlichen Zeiten überleben und ihren Weg in die richtigen Hände finden möge. Ich habe Schritte unternommen, um das zu gewährleisten. Bei der Macht der Heiligen Mutter, ich weiß, dass es so sein wird.
    Nach ihren ersten beiden Sätzen hatte Michel erschrocken die Luft angehalten und zu schreiben aufgehört: Noch nie hatte er vernommen, dass eine Frau so stolz verkündete, sie sei eine Hexe und übe Magie aus.
    Herr, hilf mir! Vater Charles und der Bischof haben Recht. Sie versucht nur, mich zu benutzen, mich zu verhexen ... Herr, gewähre mir Schutz vor ihrer Magie, vor allem Übel. Ich will als dein Diener handeln, doch verschone mich ...
    Die Äbtissin schwieg und wartete geduldig ab, bis Michel sich erholt hatte und seinen Griffel wieder zur Hand nahm. Dann fuhr sie fort.
    »Armer Bruder Michel«, sagte sie freundlich. »Ich habe Euch erschreckt. Auch wenn Ihr insgeheim wusstet, dass ich eine ... Hexe bin, Euer Herz wollte es nicht wahrhaben. Ich kann nachfühlen, wie verzweifelt Euch danach verlangt, den ... Gestrauchelten zu helfen. Ich weiß sogar, was Ihr mich als Nächstes fragen wollt.«
    »Tatsächlich?«, fragte er wachsam, denn er war sich nicht sicher, wie er reagieren sollte. Sollte er gehen, um nicht weiter verhext zu werden? Sollte er seine Pflicht der Kirche gegenüber erfüllen und auf das Kruzifix des Bischofs vertrauen, das ihn schützen würde? War es Dummheit von ihm, zu glauben, Gott habe sein Gebet um die Rettung der Äbtissin erhört? Doch die Dinge hatten sich so

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