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Kalogridis, Jeanne - Die Seherin von Avignon

Kalogridis, Jeanne - Die Seherin von Avignon

Titel: Kalogridis, Jeanne - Die Seherin von Avignon Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Unbekannter Autor
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jemand, den er verehrte, leiden musste. Diese Sorgen quälten ihn so sehr, dass er das gemeinsame Abendessen mit den Mönchen scheute und in seiner Zelle blieb, um innere Einkehr zu halten und zu beten.
    Herr, rette Mutter Marie und ihre Schwestern, und ich will alles tun, was du von mir verlangst. Ich werde unablässig beten, will mich jeden Abend geißeln, mich öffentlich demütigen, in der Wildnis faste... .
    Während er betete, wurde das Sonnenlicht, das durch das kleine, unverschlossene Fenster drang, allmählich schwächer, es verblasste erst zu Dämmerlicht, dann wurde es dunkel. Die ganze Zeit blieb er auf den Knien, bis er irgendwann gegen Mitternacht auf die Seite fiel und auf dem kalten Steinboden fest einschlief.
    Wieder war er der Fremde und sah mit den Augen eines anderen, hörte mit den Ohren eines anderen, ohne das Gesicht des Fremden sehen zu können, denn es war, als hätte seine Seele sich in dem Körper, dem Herzen und den Gedanken des anderen Mannes eingenistet. Der Fremde ritt durch die Kühle des Morgens, Oberschenkel und Waden eng an die spielenden Muskeln seines Pferdes geschmiegt. In der Rechten trug er eine Lanze -eine schwere Waffe -, doch sein jugendlicher Arm war so kräftig, dass er sie leicht handhaben konnte, und an seiner Hüfte hing ein Schwert, das so lang war wie sein Bein. In die Scheide war eine einzelne rote Rose eingraviert. In weiter Ferne wehte die karmesinrote Fahne des Königs im Wind, das Banner mit den zwei Spitzen, verziert mit glänzendem Gold. Der Reiter zu seiner Linken, ein Ritter mit grau meliertem Bart, dessen Gesichtszüge unter dem Helm seiner Rüstung verborgen waren, trug die Flagge. Der Reiter zu seiner Rechten, ein junger Mann mit rotblondem Haar, warf ihm grimmig einen ermutigenden Blick zu.
    Er kannte diese Männer, sie waren ihm ebenso vertraut wie er ihnen. Ganz langsam rückten sie gemeinsam vor, und er bemerkte schließlich, dass sie nur ein Tropfen in einem Meer von Pferden und Männern waren. Stille herrschte, bis auf die Schreie eines Falken, das Rascheln von Pferdehufen auf gefallenem Laub und hin und wieder ein ersticktes Husten. Durch die Äste der fast kahlen Bäume schaute er vom Hügel hinab und erblickte durch den sich teilenden Nebel die Biegung eines Flusses unter sich, der quecksilbern in der aufgehenden Sonne schimmerte. Plötzlich ertönte Trompetenhall aus der Ferne.
    Die Szene verblasste und zeigte sie - die Äbtissin ~, doch sie war weder Nonne noch Hexe, sondern lediglich eine Frau. Eine eindrucksvolle Frau, nicht in Sackleinen gekleidet, sondern in ein hauchdünnes weißes Hemd, das wie der Mond glänzte. Über ihre vollkommenen Schultern, über Rücken und Arme fielen üppige blauschwarze Locken. Sie saß auf der Holzbank in ihrer Zelle, die Knie an die Brust gedrückt, die Arme fest um die Schienbeine geschlungen. Michel stand mit Feder und Pergament in der Hand vor ihr und war bereit, ihr Geständnis aufzunehmen. Mit gelindem Schreck bemerkte er, dass er allein war, ohne Vater Charles, der ihn von seiner Lust ablenkte. Doch der Schreck ließ nach, als er ihr in die lebhaften Augen schaute und dort nichts als reine Liebe und Verlangen entdeckte. Sie erhob sich, ohne den Blick von ihm zu wenden, und während sie auf ihn zutrat, löste sich ihr Hemd in der Dunkelheit auf, und sie erschien nackt vor ihm.
    Er wehrte sich nicht, als sie ihm Feder und Pergament aus den Händen nahm und zu Boden warf. Auch protestierte er nicht, als sie seinen Oberkörper mit den Armen umschlang, ihn zu sich nach unten zog und ihre weichen, unverletzten Lippen auf seinen Mund drückte. Als er sie küsste, durchfuhr ihn ein wohliger Schauer. Ihre sanften Berührungen ließen sein Herz schneller schlagen. Er umfasste sie ebenfalls und konnte sich seinen Empfindungen nicht länger widersetzen ...
    Als Michel mit einem Ruck erwachte, ging sein Atem stoßweise, und die wohlige Zufriedenheit, die er noch immer verspürte, wich augenblicklich einem schmerzenden Schuldgefühl. Hastig setzte er sich auf und versuchte, die Spuren seines Traumes mit einer Falte seines Unterkleids zu beseitigen. Einerseits war er verlegen ob seines unzüchtigen Traumes, andererseits durchfuhr ihn der Gedanke:
    Vater Charles hatte Recht. Sie schleicht sich in meine Träume und versucht, mich zu verhexen...
    Verärgert und verwirrt zugleich säuberte er sich mit schroffen Bewegungen. Da wurde an seine Tür geklopft. Michel erschrak, ließ den feuchten Stoff aus der Hand gleiten und

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