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Kalogridis, Jeanne - Die Seherin von Avignon

Kalogridis, Jeanne - Die Seherin von Avignon

Titel: Kalogridis, Jeanne - Die Seherin von Avignon Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Unbekannter Autor
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bemühte sich, seinen noch immer keuchenden Atem zu beruhigen.
    »Ja?« Es konnte unmöglich bereits Zeit für die Frühmette sein, dann hätten die Glocken geläutet.
    »Hier ist Bruder Andre«, kam die Antwort im Flüsterton, um die anderen nicht aufzuwecken.
    »Darf ich eintreten?«
    »Natürlich.«
    Die dünne Holztür öffnete sich um eine halbe Armlänge, und ein älterer, buckliger Mönch schlüpfte lautlos herein. Die Öllampe in seiner Hand beleuchtete sein Gesicht mit grellem Licht. Schatten vertieften die Falten um seinen Mund und unter den Augen und verliehen ihm etwas Unheimliches.
    »Bruder Michel«, flüsterte der Alte in drängendem, geheimnistuerischem Ton. »Vater Charles ist ernsthaft erkrankt. Er hat nach Euch verlangt...« Michel stand sofort auf, nahm seine Kutte vom Haken an der Wand und schlüpfte hinein. Die Erinnerung an den Traum wich umgehend der Sorge um den verehrten Mentor. »Erkrankt?«
    Bruder Andre bekreuzigte sich und sprach beim Ausatmen nur ein Unheil verkündendes Wort aus: »Pest ...«
II
    Man hatte den Priester aus einer Mönchszelle in behaglichere Räumlichkeiten gebracht, in ein Gästezimmer mit einer dem Adel geziemenden Ausstattung und einem richtigen Federbett mit Kissen. Neben dem Bett auf einem mit reichen Schnitzereien verzierten Tisch standen zwei Kerzen in einem sechsarmigen Leuchter und verbreiteten ein flackerndes Licht.
    Doch Vater Charles schien außerstande, die Veränderungen seiner Umgebung wahrzunehmen. Stöhnend warf er sich auf seinem Lager hin und her, fuchtelte wild mit Armen und Beinen und drehte den Kopf von einer Seite zur anderen. Zuweilen kniff er die Augen fest zu, dann wieder riss er sie weit auf, als wäre er entsetzt über einen Anblick in weiter Ferne, der nur ihm zugänglich war. Neben dem Bett saß ein weiterer Mönch - auch er schon älter, vielleicht in den Vierzigern - auf einem Hocker. Als Michel eintrat (und sein Führer, Bruder Andre, sich entfernte), erhob sich der Dominikaner und hielt warnend eine Hand hoch. Seine Stimme war leise, als wünschte er nicht, dass sein Patient ihn hörte. »Es ist die Pest. Habt Ihr...«
    »Einerlei.« Michel trat ans Bett. »Ich werde Euch helfen, ihn zu versorgen.«
    Vater Charles hustete gurgelnd. Sogleich hob der Pfleger die Schultern des Priesters an und zog sie nach vorn, wobei er ihm ein weißes Taschentuch vor den Mund hielt. Während der Mönch sanft eine übel riechende Mischung aus Blut und Schleim aus Vater Charles' Bart wischte, flüsterte er Michel zu: »Dann bedaure ich umso mehr, Euch sagen zu müssen, dass es sich hier um die schlimmste Form handelt, die sich in die Lungen setzt. Die meisten, die daran erkranken, sterben. Wenn Gott ihn zu sich holen will, werden wir es in spätestens zwei Tagen wissen. Ich habe bereits nach einem Priester geschickt.«
    Michel spürte zunächst keinen Schmerz, nur Kälte und Überraschung. Dann fiel ihm ein, dass er ausatmen musste, und mit der damit verbundenen Erleichterung durchflutete eine beinahe unerträgliche Qual seinen Körper. Es gelang ihm, sich zu beherrschen und nicht zu weinen, doch der andere Mönch bemerkte es und sagte, wie um sich zu entschuldigen: »Sie bricht von Zeit zu Zeit noch immer aus, vor allem auf dem Lande. Es ist die Luft, wisst Ihr, und diese seltsame, plötzliche Hitze ...« »Michel?«, keuchte Charles, die Augen weit aufgerissen und doch blind, die Hände tasteten im Dunkeln. »Bist du es, Michel?«
    Sogleich trat Michel an die Seite des Priesters und ergriff die fiebrige, feuchte Hand. Charles' Haut und Lippen waren grau, Schweißperlen glänzten auf seiner Stirn, und die Haare in seinem silberschwarzen Bart fingen den Schein der Kerzenflammen ein und glitzerten wie Tausende winziger Juwelen.
    »Ich bin bei Euch, Vater, ich bin hier. Ich werde bleiben und die Nacht über für Euch beten.«
    Als er die vertraute Stimme seines Neffen vernahm, wurde der Priester ruhiger. Michel wandte sich an den anderen Mönch und raunte ihm zu: »Geht zu Bett, Bruder.« Der Mönch nickte und verließ den Raum; Michel setzte sich auf den Hocker, ohne die Hand des Priesters loszulassen.
    »Ich bin bei Euch, Vater«, wiederholte er. »Ich werde nicht ...«
    »Es ist meine Hoffart, siehst du das nicht?«, krächzte der Priester und versuchte, sich aufzusetzen; Michel stand auf und drückte ihn sanft in die Kissen zurück. »Meine Hoffart! Ich habe dich heute wie einen gehorsamen Lakaien herumgescheucht, habe mit dir geprahlt, als wollte ich

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