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Kalogridis, Jeanne - Die Seherin von Avignon

Kalogridis, Jeanne - Die Seherin von Avignon

Titel: Kalogridis, Jeanne - Die Seherin von Avignon Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Unbekannter Autor
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einfach ergeben mit Vater Thomas ...
    Sie lachte kurz und erbittert auf. »Nicht mit Hilfe eines Zauberkunststücks ... sondern weil ich weiß, dass Ihr ein gutes Herz habt. Ihr wollt fragen, ob ich je eine Christin gewesen sei, um sicher zu gehen, dass ich keine relapsa geworden bin, damit Ihr meine Seele retten könnt.«
    »Wart Ihr je Christin?«
    »Nein, nie. Doch was ich wirklich bin, ist längst nicht so schrecklich, wie die Kirche es Euch glauben machen will.« Sie hielt inne. Dann fuhr sie mit fester Stimme fort:
    »Ich werde jetzt mit der Geschichte meiner Geburt beginnen, wie sie mir die Göttin offenbart hat.«
    »Mutter, wir haben keine Zeit. Tatsächlich« - er holte tief Luft, was ihm unsägliche Schmerzen bereitete, doch er konnte seine Pflicht nicht leugnen - »hängt es von Eurer Antwort auf die folgende Frage ab, ob ich Euer Geständnis überhaupt noch weiter aufnehmen kann. Von Göttinnen solltet Ihr lieber schweigen. Antwortet: Habt Ihr bösen Zauber gegen Seine Heiligkeit ausgeübt? Habt Ihr auf irgendeine Weise versucht, ihm zu schaden?«
    »Ich kann es nicht, konnte es nie. Es entspricht nicht meinem Wesen, so etwas zu tun. Das ist, als fragte man einen Fisch, ob er geflogen sei. Ihr wart damals in Avignon, Ihr habt gesehen, was ich getan habe. Wollt Ihr nun meine Geschichte anhören?«
    »Ja«, stimmte Michel erleichtert zu. »Aber wir müssen doch nicht bei Eurer Geburt anfangen.«
    Der Anflug eines Lächelns umspielte ihre Lippen, als sie ihm einen vollkommen ungläubigen Blick schenkte. »Wie wollt Ihr denn sonst beweisen, dass ich keine relapsa geworden bin, Bruder, wenn Ihr nicht alles erfahrt?«
    Er öffnete den Mund und wollte schon widersprechen, fand jedoch kein überzeugendes Argument und schwieg. Ihre Miene verfinsterte sich plötzlich; das Spiel von Kerzenschein und Schatten auf ihren Wunden ließ sie gespenstisch aussehen, und ihre Stimme klang dumpf, als sie sagte: »Wir wissen beide, mein Freund, dass die Mächte, die Euch lenken, entschlossen sind, mich brennen zu sehen - und das bald. Würdet Ihr mir den kleinen Gefallen erweisen, meine Geschichte aufzuzeichnen, bevor ich sterbe, damit an ihrem Ende etwas von mir übrig bleibt? Und um mich zu kennen, müsst Ihr auch die Geschichte meines Geliebten anhören, eines Ritters, der von den bösen Mächten zerstört wurde, die mich hierher gebracht haben. Ohne ihn besteht keine Hoffnung mehr -weder für mich noch für mein Geschlecht. Zur Erinnerung an ihn erzähle ich Euch jetzt unsere Geschichte.«
    »Mutter Marie, ich kann nicht ...«
    Sie fiel ihm ins Wort: »Wir waren untrennbar vereint; ich kann nicht von mir sprechen, ohne ihn zu erwähnen.«
    »Ich habe vielleicht nicht einmal die Zeit, Euer Geständnis aufzuzeichnen«, gab Michel ehrlich zu. »Vor allem, Mutter, wenn wir mit der Geschichte Eurer Geburt beginnen. Vielleicht habt Ihr gehört, wie viel Zeit die Obrigkeit uns zugestanden hat: drei Tage, nicht länger. Darüber hinaus muss ich Euch darauf hinweisen, dass ich mich weder durch Euren Zauber noch durch Eure Argumente beeinflussen lasse, und ich werde unablässig dafür beten, dass Euer Herz zu Christus geführt wird, dass Ihr gerettet werdet.« Daraufhin schwieg sie und musterte ihn eingehend; dann sagte sie unendlich langsam: »Und ich bete für Euch.«
    Erneut hob Michel den Griffel und begann zu schreiben.
T eil II - Sybille
TOULOUSE August 1335
IV
    Ich wurde inmitten von Feuer geboren. Es war im Spätsommer, ein Sturm kündigte sich an, die schwere Luft knisterte in Erwartung niedergehender Blitze. Draußen schlurften die Leibeigenen, die das Land bebauten, neben Pferdekarren, deren Räder unter der Last der diesjährigen reichen Weizenernte knarrten, nach Hause. Verschwitzt schaute meine Großmutter aus dem unverschlossenen Fenster in der Hoffnung, ihren Sohn zu erblicken. Doch Staub und Gewitterwolken waren wie eine undurchdringliche Wand, und sie konnte die schemenhaften Männer mit ihren Sensen nicht voneinander unterscheiden. Trotzdem verriet ihre Sehergabe ihr, dass mein Vater schon bald im Türrahmen stehen würde. Er war ein Bauer, der sich auf den Feldern des Feudalherrn vor den Stadtmauern von Toulouse abrackerte, und wurde einst als Pietro di Cavascullo in Florenz geboren. Um den niederträchtigen Vorurteilen und dem Misstrauen in meiner Heimat, dem Languedoc, aus dem Weg zu gehen, nahm er den Namen Pierre de Cavasculle an. Im Gegensatz zu ihm weigerte sich Noni standhaft, mit grandmere angesprochen zu

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