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Kalogridis, Jeanne - Die Seherin von Avignon

Kalogridis, Jeanne - Die Seherin von Avignon

Titel: Kalogridis, Jeanne - Die Seherin von Avignon Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Unbekannter Autor
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annehmen, die ich nie hatte, und sie in den Gebräuchen der Weisen unterrichten.
    Außerdem schien ihr, dass auch die Göttin die Verbindung segnete. Doch Catherines Angst vor dem überlieferten Wissen und vor ihrer Gabe hatte im Laufe der Jahre nicht nachgelassen.
    Ana Magdalena stellte fest, dass es unmöglich war, mit der jungen Frau über dieses Thema zu sprechen; sie vermochte sich darüber hinaus nicht einmal in ihren eigenen vier Wänden, und sei es noch so versteckt, auf die Weisheit zu beziehen, wenn Catherine anwesend war. Trotzdem liebte Ana Magdalena sie, und Catherine hatte die Liebe allem Anschein nach erwidert und ihrer Schwiegermutter in den vergangenen sechs Jahren vertraut - bis sie mit diesem Kind schwanger wurde. Vom ersten Augenblick der Schwangerschaft an hatte ihr Misstrauen zugenommen, bis es eine Barriere um ihre Zuneigung errichtet hatte, die Ana Magdalena nicht zu durchbrechen vermochte. Und hätte die ältere Frau zugegeben, sie habe seit der Empfängnis gewusst, dass dieses Kind ein Mädchen würde, wäre Catherine vielleicht Hals über Kopf zum Dorfpriester gelaufen, um über ihre Schwiegermutter, die Zauberin, zu tratschen.
    Lass sie ruhig, dachte Ana Magdalena. Dann wird sie beichten müssen, dass sie schließlich, als sie wusste, dass sie zum siebten Mal schwanger war, zu mir kam und mich um Zaubermittel bat.
    Auf Catherines Wunsch lag nämlich ein Zauber aus Kräutern unter dem Gebärstuhl, ein zweiter bestand aus Worten, die über dem Tee ausgesprochen wurden, und über dem Haus lag ein magischer Schutz, der zu heilig war, als dass er mit Hilfe von Kräutern oder Gesängen dargestellt werden konnte. Dunkler Donner grollte in der Ferne; eine kühle, aber feuchte Brise ließ die Holzläden an den Fenstern leise gegen die Lehmwand schlagen. Die Geräusche wurden bald von den Schreien der Gebärenden übertönt. Trotz der wichtigen Aufgabe, die sie zu bewältigen hatte, warf die Hebamme einen kurzen Blick zur offenen Tür, denn sie wusste, ohne es zu sehen oder zu hören, dass ihr Sohn dort in seiner durchschwitzten Tunika stand, die über und über mit Weizenkörnern und Spreu bedeckt war.
    Pietro zögerte, hielt die Sichel noch in der Hand, und seine großen Augen zeugten von unsäglicher Müdigkeit. Der Blick seines Vaters, dessen Namen er trug, war oft ebenso erschöpft gewesen, erinnerte sich Ana Magdalena wehmütig. Denn einem Bauern war die Last auferlegt, sich ständig auf den Äckern abzuplagen, die er vom Feudalherrn gepachtet hatte, und dazu noch die riesigen Felder seines Herrn zu bestellen. Ein solches Leben entkräftete einen Mann völlig, sodass nicht mehr viel für seine Familie übrig blieb.
    Er hatte die Augen seines Vaters und die Sehergabe seiner Mutter. Doch als Pietro älter wurde und seinen Vater auf die Felder begleitete, ließ sein Interesse an dem überlieferten Wissen nach. Ana Magdalena drängte ihn nicht. Ihm war es nicht bestimmt, seine Gabe einzusetzen, vielmehr sollte er sie an sein einziges Kind weitergeben. Ana Magdalena erhob sich, schenkte ihrem Sohn ein mattes Lächeln, als er hereinkam, nahm ihm die Sichel ab und streifte ihm die schmutzigen Holzschuhe von den Füßen.
    »Catherine geht es gut, sie wird bald dein Kind zur Welt bringen.«
    Bei diesen Worten breitete sich ein so strahlendes Lächeln auf Pietros Gesichtszügen aus, dass Ana Magdalena unwillkürlich den Atem anhielt. So war es schon immer bei ihrem Sohn gewesen. Stets zeigte er eine ernste Miene, aus der sie nie ablesen konnte, was er dachte. Dann aber lächelte er auf einmal wie die Morgensonne, die hinter einem grauen Berg aufgeht, und sie war jedes Mal verblüfft. Er trat zu seiner Frau und streckte die Hand nach ihr aus.
    »Catherine, ist es wahr? Werden wir endlich einen Sohn haben?«
    »Ich weiß nicht«, stöhnte sie. »Es ist schrecklich, schrecklich ... Ich bin zu Tode erschöpft ...« Sie entblößte die Zähne und verzog das Gesicht vor Anstrengung, während sie einen Aufschrei unterdrückte.
    Er hockte sich neben sie. »Oh, Catherine. Bitte, schrei. Es ist schlimmer für mich, wenn ich mit ansehen muss, wie tapfer du bist ...«
    Sie tat ihm den Gefallen und ließ den angestauten Schrei mit einer ungehemmten Heftigkeit los, woraufhin er bestürzt zurückschreckte.
    Ana Magdalena ging an den Herd und holte ihm einen Teller voll warmem Eintopf, einem sämigen Gericht aus Kohl und Lauch und, zur Feier des Tages, einem ganzen Huhn. Er hatte ein wenig Fleisch verdient, ebenso wie

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