Kalogridis, Jeanne - Die Seherin von Avignon
ging wieder zu Catherine und hielt ihr den Krug an die Lippen.
»Trink, mein Kind.«
Plötzlich misstrauisch, wandte Catherine das Gesicht ab. »Woher weiß ich, dass du ihn nicht verhext hast?« Ana Magdalena ließ sich zu einem hörbaren Seufzer der Verärgerung hinreißen. Sie war auch die schwankenden und unerklärlichen Launen Gebärender gewohnt, nicht jedoch das Misstrauen, das Catherine ihr während der ganzen Schwangerschaft entgegengebracht hatte.
»Heilige Mutter Gottes, Catherine! Du hast vor diesem bereits zwei Krüge von demselben Tee getrunken! Es ist nur Weidenrinde mit einem beruhigenden Kraut. Er lindert das Fieber und den Schmerz. Und jetzt trink!« Das letzte Wort stieß sie so heftig aus, dass die junge Frau in plötzlicher Demut nachgab und einen großen Schluck trank.
Ana Magdalena warnte: »Schlückchen nur, ganz kleine, sonst ...«
Noch ehe sie die Worte wird dir schlecht aussprechen konnte, erbrach sich Catherine und spuckte ein wenig Galle aus. Mit der Voraussicht der erfahrenen Hebamme gelang es Ana Magdalena, den Krug gerade noch rechtzeitig fortzuziehen. Das Erbrochene ergoss sich über Catherines schlichtes Unterkleid und hinterließ von Brust bis Bauch gelblich grüne Streifen auf dem dunklen Stoff. Es hat keinen Zweck, das jetzt abzuwischen, dachte Ana Magdalena zerstreut. Das Hemd war bereits mit Fruchtwasser, Blut und Lehm vom Boden beschmutzt. Pflichtgetreu wischte sie Catherine wieder mit dem Tuch über das Gesicht und redete auf die stöhnende junge Frau ein: »Halt still, meine Kleine, ich will nach dem Kind sehen.«
Sie ging auf dem blutdurchtränkten Stroh in die Hocke. Der Gebärstuhl war so eingerichtet, dass Catherine rittlings darauf sitzen konnte und Rücken, Kopf und Arme gestützt waren. Er war aus geschnittenem, gebündeltem Heu aufgeschichtet, wobei ein Bündel ihr Kreuzbein stützte. Zwei weitere, längsseits gelegte, gaben den Beckenknochen Halt und ließen dazwischen eine kindsgroße Lücke frei. Geschickt griff Ana Magdalena unter Catherines nasses, zerknittertes Unterkleid und betastete das geschwollene Schambein.
Die Schmerzen ließen jetzt nicht mehr nach. Das Kind musste bald kommen, und wenn nicht, würde die Hebamme einen Schnitt setzen und das Kind aus dem Mutterleib befreien müssen, falls notwendig. Sie besaß genug Erfahrung, um dies ausführen zu können, ohne das Leben von Mutter oder Kind zu gefährden. Nur wenige Hebammen verfügten noch über diese Kenntnisse, da die Bader und Ärzte in der Stadt sich darüber beklagt und behauptet hatten, dies sei eigentlich ihre Domäne und nicht die unwissender Bauersfrauen.
Zwar des Lesens nicht kundig, war Ana Magdalena doch alles andere als unwissend auf ihrem ausgewählten Gebiet. Daher tastete sie mit ihren geübten langen, schmalen Fingern und spürte, dass das Kind sich tatsächlich gesenkt hatte. Der Kopf war noch nicht zu sehen, doch es konnte nicht mehr lange dauern. Sie spürte ihn bereits, gleich hinter der angeschwollenen Weiblichkeit der jungen Frau. Ana Magdalena lächelte, als sie mit der Fingerspitze über den weichen Scheitel des Kindes fuhr.
Lachend zog sie die Hände zurück, wischte sie an dem feuchten Tuch ab und warf es dann zur Seite. Sie kniete im Stroh nieder und rief glücklich: »Das Kind ist hier, Catherine, mein Schätzchen! Hier! Ich habe seinen kleinen Kopf gespürt ... Jetzt dauert es nicht mehr lange ...«
Beinahe hätte sie ihren kleinen Kopf gesagt, was allerdings ein großer Fehler gewesen wäre. Catherine war ihr gegenüber bereits misstrauisch und unsicher. Die junge Frau wusste mit einer Intuition, die der unterdrückten Gabe des Sehens entspringen musste, dass die Ältere die Weisheit des Geschlechts besaß und insgeheim die Alte Religion ausübte. Christen lehnten die alten Überlieferungen ab, ebenso verleugneten sie die Gabe des Sehens mit der Begründung, sie sei Teufelswerk.
Catherine zählte auch zu jenen. Ana Magdalena hatte schon vor Jahren gewusst, als ihr Sohn sich in die rothaarige Schönheit verliebte, dass die Gabe des Sehens bei diesem Mädchen fast ebenso stark ausgeprägt war wie bei ihr selbst. Tragisch daran war nur, dass man Catherine streng im christlichen Glauben erzogen hatte. Sie hatte nicht nur gelernt, ihre Fähigkeiten abzulehnen, sie fürchtete sich geradezu vor ihnen.
Dennoch hatte Ana Magdalena ihre Zustimmung zur Heirat der beiden gegeben, denn sie hatte sich gedacht:
Ich werde wie eine Mutter zu ihr sein und sie wie die Tochter
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