Kalogridis, Jeanne - Die Seherin von Avignon
werden; und meinen Vater nannte sie auch ausschließlich Pietro.
Wir gehörten nicht zu den Allerärmsten, obwohl wir ärmer als viele andere waren. Da ich damals noch nicht vom Luxus des Klosters verdorben war und von Avignons Pracht nichts wusste, hielt ich uns für wohlhabend. Wir hatten zwar ein Bett, doch die Matratze war mit Stroh gefüllt, nicht mit Federn, und mein Vater besaß einen Pflug, aber kein Pferd. Wie bei fast allen in unserem kleinen Dorf bestand unsere strohgedeckte Kate aus einem Raum mit Lehmboden, der mit Stroh ausgelegt war, einem Herd, dem Familienbett und einem Esstisch. Die Luft zirkulierte nur durch zwei Fenster, sodass ständig alles mit Ruß überzogen war; ich hatte noch nie von Rauchabzügen gehört, noch war mir bewusst, dass ich schmutzig war, bis ich ins Kloster eintrat.
So kam es, dass meine Mutter neben dem Herd unserer kleinen Kate in den Wehen lag, und ihre Schmerzensschreie lenkten die Aufmerksamkeit meiner Großmutter Ana Magdalena wieder auf ihre Pflicht. Meine Mutter hieß Catherine von Narbonne und war zwanzig Jahre alt. Sie war vom Gebärstuhl auf den Boden gestürzt, kroch jetzt auf allen vieren und knurrte wie ein Tier vor Schmerz.
Armes Kind, dachte meine Großmutter. Die Wehen hatten am vergangenen Tag Stunden vor Sonnenuntergang eingesetzt, und jetzt war Catherine so erschöpft und derart außer sich, dass sie nur noch wie ein wildes Tier schreien konnte und auf alles und jeden fluchte, selbst auf Gott und das Kind in ihrem Leib. Ihren Mann und ihre Schwiegermutter hatte sie fast von Anfang an verflucht, dachte Ana Magdalena mit leichtem Sarkasmus.
Sie kniete sich neben die leidende Frau. Catherine hatte sich nach vorn gebeugt, sodass ihre Unterarme auf dem Lehmboden ruhten. Darauf barg sie ihre bleiche, schwitzende Stirn. Mit der kleinen Faust schlug sie auf den strohbedeckten Boden ein.
Ana Magdalena beugte sich etwas vor, hob sanft die Haare des Mädchens hoch, einen wehenden, rotgoldenen Schleier, schön und glänzend trotz der Feuchtigkeit, und legte sie Catherine auf den Rücken. Ein alter Brauch besagt, es bringe Unglück, wenn man das Haar einer in den Wehen liegenden Frau binde; und während Ana Magdalena, die erfahrenste Hebamme von Toulouse, ganz und gar nichts von diesem Aberglauben hielt, war ihre Schwiegertochter fest davon überzeugt - und dabei ist die Zuversicht der Mutter bei einer Geburt von größter Wichtigkeit.
Vor allem, wenn es sich, wie bei dieser, um eine Erstgeburt handelte. Catherine mochte noch jung sein, doch für ein Kind war sie schon recht alt. Fast sechs Jahre war sie mit Pietro verheiratet und in der Zeit sechsmal schwanger geworden. Und jedes Mal hatte Pietro seine trauernde Frau getröstet, während Ana Magdalena die winzige Totgeburt hinaustrug, um sie im Olivenhain zu begraben. Sechsmal hatte Ana Magdalena gehofft, dass die Vision, die ihr la bona Dea, die gute Göttin, gesandt hatte, wahr würde: Ein kleines Mädchen, das dazu ausersehen war, eine große Priesterin zu werden, wie man sie seit Jahrhunderten nicht mehr gesehen hatte, ein Mädchen, das zu einer Frau heranreifen und mit den ihr verliehenen Gaben ihr Volk, ihr Geschlecht retten würde. Eine Frau, der die Gabe des Sehens beschert war ...
Die Tochter eines Vaters, hatte die Göttin gesagt, und der Sohn einer Mutter ... Gemeinsam werden sie ihr Volk vor der drohenden Gefahr retten. Und du wirst das Mädchen unterweisen.
Gefahr?, hatte Ana Magdalena, plötzlich von Furcht übermannt, bescheiden gefragt. Doch sie hatte keine Antwort erhalten; es war ihr nicht gegeben, dies zu erfahren. Daher drängte sie nicht und ließ auch keine Besorgnis zu, nur die Freude darüber, dass sie dieses auserwählte Kind kennen und dass es ihre eigene Enkelin, die Tochter ihres geliebten Sohnes sein sollte.
»Catherine«, sagte sie ernst und griff nach einem feuchten Tuch. Als die Schmerzen der jungen Frau nachließen und sie schließlich aus ihrem Elend aufschaute, wischte ihr Ana Magdalena mit raschen, festen Bewegungen Gesicht und Stirn ab. Trotz der Hitze schauderte die junge Frau. Gänsehaut bildete sich auf ihren nackten Armen.
»Mutter, hilf mir!«, schrie sie so jämmerlich, dass es Ana Magdalena, an die Schmerzen Gebärender gewöhnt, anrührte. »Ich weiß nicht, ob ich verbrenne oder erfriere!«
Die ältere Frau half der jüngeren zurück auf den Gebärstuhl und eilte an den einzigen Tisch der Kate, auf dem ein Tonkrug mit Kräutertee längst kühl geworden war. Sie
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