Kalogridis, Jeanne - Die Seherin von Avignon
während Noni hinaustrat und die Tür hinter sich schloss. »Ich bin diejenige, die Ihr sucht«, begann sie mit einer Stimme, die Freundlichkeit und Misstrauen zugleich ausdrückte. »Womit kann ich Euch dienen, mon Seigneur}«
Der Mann verzog das Gesicht. Er schlug die großen, bleichen Hände vor die Augen und begann zu schluchzen. Mit plötzlichem Schaudern wurde mir bewusst, warum er gekommen war und warum Noni ihn nicht in unser Haus lassen wollte. Während ich sie beobachtete, bildete ich mir ein, selbst bei Tageslicht einen sanften goldenen Schimmer ausmachen zu können, der von Nonis Herz ausging, wo das Amulett verborgen unter ihrer Kleidung hing. Der Mann schien unfähig zu sprechen, und schließlich fragte Noni leise: »Es ist die Pest aus Marseille, nicht wahr? Haben Sie schwarze Flecken auf der Haut und Beulen?«
Er nickte und brachte unter Schluchzen und Stöhnen ein paar Worte hervor. Er war ein wohlhabender Anwalt, dessen Frau und drei Kinder vom schwarzen Tod erfasst, die Diener krank oder geflohen waren.
»Warum habt Ihr keinen Arzt gerufen?«, erkundigte sich Noni. In Toulouse gab es sechs Ärzte. Einer von ihnen kümmerte sich ausschließlich um den Grand Seigneur und dessen Familie, die fünf anderen standen den Wohlhabenden zur Verfügung. Wenn der Anwalt schon die Hebamme aus dem Dorf bemühte, musste er ungewöhnlich verzweifelt sein.
»Die Ärzte, die nicht geflohen sind oder selbst daniederliegen, haben alle Hände voll mit den Kranken zu tun. Bitte, ich bin reich. Ich zahle jeden Betrag. Alles ...«
Meine Großmutter überlegte kurz, obwohl ihre Entschlossenheit nicht einen Moment nachließ.
»Ich werde Euch Medizin mitgeben. Aber ich begleite Euch nicht in die Stadt.«
»Ja, ja!«, stimmte der Mann ihr zu. »Aber geschwind! Ich fürchte, sie werden alle tot sein, bis ich zurückkomme.«
»Wartet hier«, wies Noni ihn an. Dann kehrte sie ins Haus zurück und suchte Kräuter für ihn zusammen, während ich ihr von meinem Platz neben der Tür schweigend und trübsinnig zuschaute. Sie suchte nach ihrem Fiebertee und einem gelben, nach Schwefel riechenden Pulver für Umschläge. Nachdem sie diese in kleine Stoffbeutel gefüllt hatte, ging sie wieder zu dem Mann nach draußen und erklärte ihm, wie man sie anwendete. Er hörte ihr mit bangem Eifer zu und sagte dann: »Aber Madame, habt Ihr denn nicht auch Amulette oder Zaubermittel, mit denen ich meine Familie retten kann?« Noni schrak zurück, als wäre sie schockiert, und legte sich eine Hand auf die Brust, wo das Amulett versteckt war. »Seigneur, ich bin eine gute Christin. Der einzige Zauber, den ich kenne, ist die Medizin der Kräuter, die Gott uns in seiner Güte offenbart hat.«
Der Mann begann erneut zu weinen. »Ich bin auch ein guter Christ, doch Gott hat es in seiner Güte gefallen, meiner Familie die Pest zu schicken. Bitte, Madame, meine Frau und meine Kinder sterben! Habt Mitleid mit uns!« Wieder barg er das Gesicht in den großen Händen. Noni seufzte, ein wenig aus der Ruhe gebracht bei der Vorstellung, dass ein so wohlhabender Anwalt sie mit Madame anredete, und ging wieder ins Haus. Mit dem Rücken zu dem Mann stopfte sie ein kleines Bündel mit verschiedenen Kräutern, band es zu, legte ihre Hände darauf und betete kaum hörbar ein paar Worte. Das Bündel glomm ein wenig auf, doch bei weitem nicht so strahlend wie die Sachen, die sie für unsere Familie gemacht hatte. Schließlich brachte sie es dem Mann hinaus.
»Tragt das fortwährend am Körper«, wies sie ihn an. »Berührt es oft und denkt dabei an Eure Frau und die Kinder, als sie noch gesund waren.«
»Mögen Gott und die Heilige Jungfrau Maria Euch segnen!«, rief der Mann und gab ihr eine Goldmünze. Noni und ich starrten wie gebannt darauf. Noch niemals hatte man uns mit Gold bezahlt.
Meine Großmutter hielt ihm die Münze wieder hin. »Ich kann das nicht annehmen. Ihr schuldet mir nichts für das Amulett, nur für die Kräuter. Es ist das Dreifache eines Arztlohnes ...«
Doch der Mann hatte sein schönes Pferd bereits bestiegen und galoppierte davon.
In diesem Augenblick erschien meine Mutter auf der Schwelle mit dem Wassereimer auf der Schulter. Stirnrunzelnd schaute sie dem Reiter nach, dann warf sie Noni einen fragenden Blick zu, die noch immer die Goldmünze bewundernd zwischen Daumen und Zeigefinger hielt.
»Es gibt weitere Pestfälle in der Stadt, jetzt sterben sogar schon die Ärzte«, erklärte meine Großmutter, als Maman an ihr vorbei
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