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Kalogridis, Jeanne - Die Seherin von Avignon

Kalogridis, Jeanne - Die Seherin von Avignon

Titel: Kalogridis, Jeanne - Die Seherin von Avignon Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Unbekannter Autor
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Brot standen, habe berichtet, der Seigneur, der kürzlich Besuch von Prälaten aus Avignon erhalten habe, sei selbst erkrankt. Alle befürchteten, die Pest habe das Herrenhaus befallen, was bedeutete, dass sie bald auch im Dorf Einzug halten würde. Noni erwiderte nichts.
    Doch als wir nach dem Abendessen zu Bett gegangen waren, zündete sie die Öllampe an und setzte sich auf, um vier kleine Stoffsäckchen zu nähen, die sie mit einer Kräutermischung stopfte, zunähte und mit langen Schnüren versah, damit man sie um den Hals tragen konnte. Ich lag neben Maman und tat, als schliefe ich, sah aber verstohlen unter halb geschlossenen Augenlidern zu, wie Noni die Amulette fertig stellte. Nachdem die regelmäßigen Atemzüge meiner Mutter und das laute Schnarchen meines Vaters sie davon überzeugt hatten, dass die beiden schliefen, trat sie ans offene Fenster und hielt die Kräuterbeutel mit ausgestreckten Armen hinaus, als wollte sie diese dem Mond opfern. Sie schwieg eine Zeit lang, und schließlich sah ich, wie um ihre Hände ein goldener Schein zu leuchten begann, der mit jeder Sekunde heller strahlte. Dann murmelte sie in ihrer Muttersprache einen Segen vor sich hin. Ich sprach damals nur ein paar Worte Italienisch, doch eine Formulierung kannte ich gut: la bona Dea. Diana, la bona Dea ...
    Sie sprach den Namen aus wie ein Liebhaber ein zärtliches Kosewort, und auf ihren Lippen wurde er zum schönsten Laut, den ich je gehört hatte. Während sie redete, schienen die nächtlichen Wolken weiterzuziehen, damit das Mondlicht durch das Fenster auf die kleinen Beutel scheinen konnte. Bei ihrem Singsang Diana ... Diana ging der goldene Schimmer von Nonis Händen in die Beutel über und vermischte sich mit dem Silberglanz des Mondes, bis jedes Amulett von einer strahlenden Aura umgeben war. Ich empfand große Ehrfurcht vor der reinen Schönheit des Lichts und holte tief Luft. Noni musste mich gehört haben, denn sie lächelte wissend zum Mond empor. Dann weckte sie mich und meine Eltern, um uns die Amulette umhängen zu können. Medizin, erklärte sie den beiden, um die Pest abzuwehren, doch ich wusste, dass es weit mehr war. Selbst Maman nahm den Anhänger dankbar entgegen. Offenbar reichten die schrecklichen Anblicke jenes Tages, um ihren Widerwillen zu überwinden. Im Dunkeln konnte ich das Amulett golden zwischen meinen Brüsten schimmern sehen. Beim Einschlafen in jener Nacht fühlte ich mich beschützt, wohl behütet in dem warmen Glanz der Liebe von Noni und Diana.
    Nach ein paar Tagen wurde mein Vater zum Herrenhaus gerufen, um auf dem Landgut des Seigneurs zu arbeiten, denn die Männer, die sonst die privaten Felder des Feudalherrn bestellten, waren erkrankt. Papa murrte darüber, da er sich um sein eigenes Getreide kümmern musste, doch er schuldete dem Feudalherrn einige Arbeitstage, sodass ihm gar nichts anderes übrig blieb. Also ließ er seine Felder im Stich und machte sich mit dem Verwalter, der ihn abgeholt hatte, auf den Weg zum Herrenhaus.
    Am selben Tag noch klopfte ein Besucher an unsere Tür. Maman war Wasser holen gegangen, ich fegte den Herd aus, während Noni einige frisch gesammelte Kräuter zum Trocknen vorbereitete, da sie den Ausbruch der Pest erwartete. Ich stellte sofort den Besen ab und eilte zur Tür, deren obere Hälfte offen war.
    Draußen stand ein stämmiger Mann mittleren Alters, gut gekleidet in einem bestickten kurzen Hemd aus roter Seide mit langen Glockenärmeln, gelben Beinkleidern, roten Samtschuhen und einer Kappe mit gelben Federn. Dennoch wollte sein Gesicht ganz und gar nicht zu seiner eleganten Erscheinung passen. Es war breit, mit einer Knollennase, aufgeworfenen Lippen und kleinen, tief liegenden Augen. Hinter ihm stand schwer atmend ein schöner Rappe, den er an den blühenden spanischen Flieder gebunden hatte.
    Die Stirn des Mannes war von Sorgenfalten gezeichnet, und er trat aufgeregt von einem Fuß auf den anderen.
    »Die Weise Frau!«, schrie er, nicht herablassend, sondern mit echter Verzweiflung. »Ist hier das Haus der Weisen Frau?«
    »Ja, mon Seigneur«, antwortete ich und brachte mit Mühe und Not einen kleinen Höflichkeitsknicks zuwege. Dann schob ich den Riegel an der Tür zurück, um ihn hereinbitten zu können.
    Sogleich wurde ich von hinten mit erstaunlicher Härte an der Schulter gepackt. Noni stand an meiner Seite.
    »Nein«, murmelte sie so leise, dass nur ich es hören konnte. »Ich werde draußen mit ihm reden. Du bleibst hier.« Ich gehorchte,

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