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Kalogridis, Jeanne - Die Seherin von Avignon

Kalogridis, Jeanne - Die Seherin von Avignon

Titel: Kalogridis, Jeanne - Die Seherin von Avignon Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Unbekannter Autor
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ins Haus ging. Noni folgte ihr, und ich beugte mich vor, um die Münze genau zu betrachten. Später erfuhren wir, dass es sich um einen echten Livre d'or handelte, ein schönes, glänzendes Stück. Noni steckte ihn in den Mund und biss darauf; als er einen schwachen Abdruck ihrer Zähne zeigte, lächelte sie. Wir waren reich. Doch unsere Freude, ohnehin käuflich erworben durch den Kummer eines anderen, wurde gleich wieder zerstört, als wir hinter uns einen leisen Aufprall, das Klappern von Holz, das Platschen schwappenden Wassers vernahmen. Wir drehten uns um und sahen Maman breitbeinig auf dem mit Stroh bedeckten Lehmboden sitzen. Ihr Rock war völlig durchnässt, der Eimer zwischen ihren Knien umgeworfen. Sie legte sich eine Hand ans Gesicht, schaute verblüfft zu uns beiden auf und sagte: »Ich habe das Wasser verschüttet.«
    »Bist du verletzt, Catherine?«, fragte Noni, während wir Maman gemeinsam stützten und ihr auf die Beine halfen. Die Haut unter den feuchten Ärmeln meiner Mutter fühlte sich ungewöhnlich warm an.
    »Ich habe das Wasser verschüttet«, wiederholte sie und schaute verzweifelt zwischen mir und Noni hin und her, als wollte sie uns etwas Wichtiges mitteilen, könnte aber nicht die richtigen Worte finden.
    »Ist schon gut«, erwiderte ich, als wir ihr auf das Bett halfen. »Ich nehme den Eimer und hole frisches Wasser.«
    »Ist es eigentlich kalt heute?«, fragte meine Mutter unter plötzlichem, heftigem Schaudern. Als wir ihr die nasse Kleidung auszogen, glomm der schwache Glanz des Amuletts zwischen ihren Brüsten plötzlich wie eine Flamme auf und erlosch.
    Maman lag den Rest des Tages mit Schüttelfrost und hohem Fieber im Bett.
    »Muss ich sterben?«, flüsterte sie mit schwacher Stimme in den flüchtigen Momenten, in denen sie zu sich kam. »Ist es die Pest?« Nein, versicherten wir ihr. Die Haut wurde nicht schwarz, und es gab keine Anzeichen der übel riechenden Beulen. Offensichtlich litt sie nur an dem Wechselfieber, an dem Noni zuvor erkrankt war, sie würde sich gewiss bald wieder erholen.
    Das sagten wir auch meinem Vater, als er lange nach Sonnenuntergang erschöpft und entmutigt nach Hause kam. Er war trotzdem sehr besorgt um Maman und versuchte sogar, ihr eigenhändig Suppe einzuflößen, doch das Fieber bereitete ihr Leibschmerzen, und sie konnte nichts essen. Papas Gesicht erhellte sich nur flüchtig, als wir ihm den Livre d'or präsentierten, und nach dem Abendessen erzählte er uns betrübt von den Schwierigkeiten im Herrenhaus. »Die Pest hat jetzt auf uns Leibeigene übergegriffen«, berichtete er traurig und schaute angestrengt vor sich in den kargen Eintopf, den Noni gekocht hatte. »Der Majordomus, so heißt es, wird in den nächsten beiden Tagen sterben. Seine Aufgaben gehen nun an den Verwalter über, einen unfähigen Dummkopf, der weder etwas von Feldarbeit versteht noch davon, wie man mit Knechten umgeht.
    Ich habe mit eigenen Augen gesehen, wie ein Knecht, den man aus einem anderen Dorf geholt hatte, auf dem Feld in Ohnmacht fiel. Er hatte einen großen roten Knoten am Hals.« Nonis Augen wurden schmal. Wie immer stand sie schräg hinter ihm und wartete mit dem Schöpflöffel in der Hand, um seinen Teller nachzufüllen. Sie selbst aß immer erst, wenn ihr Sohn mit dem Essen fertig war. Ich saß Papa gegenüber und hörte ihm mit wachsendem Entsetzen zu. Am liebsten hätte ich ihn gebeten, nicht wieder zum Herrenhaus zu gehen und nicht mehr auf dem Gut des Seigneurs zu arbeiten, und ich sah an der Angst in Nonis Augen, dass ihr derselbe Wunsch auf der Zunge lag. Doch wenn sich ein Leibeigener den Anordnungen widersetzte, beging er ein Verbrechen, das mit Erhängen bestraft wurde, und so hielten wir beide den Mund. Dennoch brachte Noni den Mut auf zu sagen: »Pietro, neben dem Herd liegt sauberes, frisches Heu. Schlaf heute Nacht bitte dort.« Als Papa zu ihr hochschaute und seine Augen in plötzlicher Panik aufblitzten, fügte sie verärgert hinzu: »Nein, nicht weil ich glaube, dass Catherine die Pest aus Marseille hat. Aber wenn du dich neben sie legst und auch mit dem Wechselfieber wach wirst, bist du geschwächt und wirst für die im Herrenhaus wütende Krankheit empfänglicher.«
    Doch mein Vater weigerte sich und erklärte, er werde Catherine nicht alleine schlafen lassen, und vielleicht würde ihr die Wärme seines Körpers sogar gut tun. Ich schlief am Herd auf dem Stroh neben Noni, die gelegentlich aufstand, um nach Maman zu sehen. Als sie nach einer

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