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Kalogridis, Jeanne - Die Seherin von Avignon

Kalogridis, Jeanne - Die Seherin von Avignon

Titel: Kalogridis, Jeanne - Die Seherin von Avignon Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Unbekannter Autor
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Stunde zurückkehrte und sich neben mir niederlegte, nahm ich ihren Platz ein.
    In den Stunden kurz vor dem Morgengrauen wurde ich durch schrille Schreie aus dem Tiefschlaf gerissen. Ich setzte mich auf und sah, wie meine Mutter sich auf ihrem Lager wälzte und unbewusst Papa ins Gesicht schlug, während mein Vater sich bemühte, sie festzuhalten, damit sie nicht zu Boden fiel. Noni stand neben dem Bett und versuchte zu helfen. Entsetzt schaute ich zu, wie meine Mutter in ihrem Wahn so fest an dem Amulett um ihren Hals zerrte, dass die Schnur riss. Sie schleuderte den kleinen Beutel zu Boden. Noni rettete ihn, doch der Gesichtsausdruck, mit dem sie dabei ihre Schwiegertochter anschaute, war erschreckend hart. Mir schien, als wäre sie wütend auf Maman, doch ich sagte mir, dass ich mich bestimmt irrte. Mein Vater, dessen Züge von all dem Kummer gezeichnet waren, nahm das Amulett von seinem Hals und zog es meiner unruhigen Mutter über den Kopf. Dann kam er zu mir, setzte sich schwerfällig neben mich auf das Stroh, und ich verbarg mein Gesicht in seinem dunklen, dichten Bart, während er weinte.
    Am zweiten Tag der Krankheit meiner Mutter kam die Frau des Schmieds aus der Stadt vorbei. Noni empfing sie draußen, gab ihr Kräuter und schickte sie wieder fort, wie sie es schon bei dem Anwalt gemacht hatte. Dann fanden sich nach und nach die Leute aus unserem Dorf ein. Allen gab Noni Kräuter, bis sie kaum noch genug für unseren eigenen Bedarf übrig hatte. Schließlich schloss sie die Tür, ließ die obere Hälfte nur so weit offen stehen, dass der Rauch vom Herd abziehen konnte, und rief den Verzweifelten, die anklopften, nur noch zu, wo sie selbst Kräuter sammeln konnten und wie diese anzuwenden waren. Während Noni neben dem Herd erschöpft ein Nickerchen hielt, badete ich Maman, um ihr Fieber zu senken. Ihr Hals war leicht angeschwollen, aber ich dachte nicht weiter darüber nach, denn das ist bei Fieber so üblich. Doch als ich die Bänder ihres Hemdes aufzog und ihre Arme entblößte, bemerkte ich dort eine Schwellung, so groß wie ein Ei und tiefrot. Die Haut um den harten Knoten war dunkelrot bis schwarz gefleckt und hatte die Farbe geronnenen Blutes.
    Ich weckte Noni und sagte ihr, Maman habe die Pest. Wir machten einen Umschlag und legten ihn auf die Beule unter dem Arm, doch dann entdeckten wir weitere Schwellungen in Mamans Leistengegend, umgeben von denselben dunklen Verfärbungen. Ich konnte nur noch an die arme Schwangere denken, die gestorben war. Am späten Nachmittag kehrte Papa vom Herrenhaus zurück, was mich völlig verblüffte: Erstens verließ er seine eigenen Felder nie vor Einbruch der Dunkelheit, und zweitens kam er zu Fuß, obwohl der Verwalter den Leibeigenen, die auf dem Landgut gearbeitet hatten, eigentlich immer anbot, sie mit dem Wagen heimzufahren. Ich saß noch neben meiner Mutter und schaute auf, als unsere Tür mit dumpfem Schlag geöffnet wurde.
    Unsicher blieb mein Vater einen Augenblick mit seiner abgetragenen Bauernkappe in der Hand auf der Schwelle stehen. Nie werde ich diesen Anblick vergessen: ein gut aussehender Mann mit breiter Brust und ausladenden Schultern, einem dichten, blauschwarzen Bart und sonnengebräunter Haut. Als sie ihn zurückkommen hörte, beeilte sich Noni, das Abendessen zu richten, das sie wegen der vielen Ratsuchenden und der frühen Stunde noch nicht auf den Herd gestellt hatte.
    »Papa!«, rief ich. »Warum kommst du denn schon so früh nach Hause?« Ich stand auf und ging um das Bett herum auf ihn zu.
    Er antwortete nicht, sondern blieb weiterhin zögernd an der Tür stehen und drehte die Kappe in den großen Händen mit den blutig gescheuerten Knöcheln. Ich wusste sofort, dass etwas nicht stimmte. Seine Augen wirkten wie die eines verwirrten, verängstigten Jungen. Noni spürte es auch und blickte vom Herd, neben dem sie hockte, zu ihm hinüber.
    Obwohl Papa verwirrt war, schaute er zuerst auf meine Mutter, dann auf mich und schloss kurz die Augen vor Schmerz. »Catherine«, flüsterte er, und ich wusste, er hatte begriffen, dass die Pest in unserem Haus Einzug gehalten hatte. Ich verspürte das Bedürfnis, ihn zu trösten, als wäre er das Kind und ich die Mutter. Schließlich schlüpfte er aus seinen Holzpantinen und trat ein - in seiner Verstörtheit vergaß er, die Tür hinter sich zu schließen -, dabei beleuchtete das Licht aus dem Herd die dunklen Flecken auf seinem Kittel aus Werg. Als er näher kam, rief ich beunruhigt: »Papa!« Denn die

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