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Kalogridis, Jeanne - Die Seherin von Avignon

Kalogridis, Jeanne - Die Seherin von Avignon

Titel: Kalogridis, Jeanne - Die Seherin von Avignon Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Unbekannter Autor
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Flecken waren rötlich braun, wie getrocknetes Blut.
    Er schaute an sich herab, als wäre er überrascht, sie dort zu sehen, und sagte dann schwerfällig: »Niemand kam zur Arbeit, außer einem anderen Leibeigenen, Jacques LaCampagne. Doch während wir arbeiteten, spuckte er plötzlich Blut und brach tot neben mir zusammen. Ich versuchte, Hilfe zu finden, aber alle waren verschwunden, außer dem Priester, der gekommen war, um der Mutter des Seigneurs die Letzte Ölung zu verabreichen.«
    »Sie ist tot?«, fragte ich entsetzt.
    Ein merkwürdiger Ausdruck überzog das Gesicht meines Vaters, als versuchte er, die Worte einer unsichtbaren Seele zu erfassen. »Ich bin sehr müde«, sagte er plötzlich. Er ging zum Bett hinüber, legte sich neben seine Frau und stand nicht wieder auf.
    Obwohl es inzwischen viele Jahre her ist und ich seither einiges erlebt habe, ist die Erinnerung an das Leiden meiner Eltern nicht verblichen. Der Schmerz bleibt frisch. Mein Vater fiel sofort in ein tiefes Delirium, und obwohl ich ihm mein strahlendes Amulett gab, da er das seine meiner Mutter übergestreift hatte, wurde er nie wieder gesund. Auch mein Vater war vom Fieber befallen, doch seine Krankheit nahm einen anderen Verlauf. Weder unter seinen Armen noch in der Leistengegend tauchten Beulen auf. Stattdessen befiel die Pest seine Lunge, sodass er blutigen Schleim spuckte. Nach zwei Tagen war er tot.
    Inzwischen hatte sich meine Mutter in eine erbärmliche Kreatur verwandelt. Ihre blasse Haut war von schwarzen Flecken und Schwellungen übersät, die Eiter und Blut absonderten. Bei dieser schlimmen Krankheit stanken die Betroffenen wie Tote, obwohl sie noch lebten. Als mein Vater von uns schied, rief meine Mutter laut seinen Namen und versank dann in Schweigen. Noni und ich waren uns sicher, dass sie ihrem Mann bald folgen würde. Ich war vor Kummer außer mir. Bevor mein Vater starb, war ich auf der Suche nach dem Priester ins Dorf geeilt, damit er ihm die Letzte Ölung geben konnte. Selbst um die Mittagszeit schien das Dorf unheimlich und verlassen. Nicht ein einziger Leibeigener arbeitete auf den Feldern, nicht eine Frau holte Wasser aus dem Brunnen, obwohl genügend Tiere dort herumstanden. Kühe trampelten unbeaufsichtigt durch zarte, junge Getreidetriebe und fraßen, was sie wollten, und eine streunende Herde Ziegen, jämmerlich blökend, weil sie gemolken werden mussten, kam auf mich zu.
    Der Priester war weder in der Kirche noch im Pfarrhaus. Als ich den Kirchhof überquerte, kam ich zum Totengräber, der gerade ein frisches Grab aushob. Ich erkundigte mich nach dem Priester.
    »Tot oder im Sterben«, erwiderte der Totengräber knapp, »oder gibt einem Toten irgendwo die Letzte Ölung. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis ich auch ihn begrabe.« Sein Gesicht und seine Kleidung waren schwarz vom Schmutz und Schweiß mehrerer Tage. Ungerührt von den Tränen, die mir über das Gesicht rannen, redete er gleichgültig weiter, er war äußerst erschöpft und vom Anblick der unzähligen Leichen betäubt. Neben ihm befanden sich mehr als ein Dutzend neuer Hügel und drei frisch ausgehobene Gräber. Während er sich mit der vierten Grube abplagte, deutete er auf die drei anderen. »Die hier werden vor morgen besetzt sein. Wenn Ihr Tote habt, müsst ihr sie selbst herbringen, denn es ist niemand da, der Euch helfen könnte. Und am besten kommt ihr bald, solange noch Platz da ist.« Er hielt inne, legte den Kopf merkwürdig schief und fügte dann hinzu: »Das ist das Ende der Welt. Der Priester hat es uns doch aus der Bibel vorgelesen - das letzte Buch, die Offenbarung ...«
    Auswendig sagte er auf: »Und da er das vierte Siegel auftat, hörte ich die Stimme des vierten Thiers sagen: Komm! Und ich sah, und siehe, ein fahles Pferd. Und der darauf saß, des Name hieß Tod, und die Hölle folgte ihm nach.«
    Gegen Abend ging ich tief betrübt wieder nach Hause und berichtete Noni, dass wir Papas Leiche ohne Hilfe zum Friedhof schaffen müssten. Nachdem sein Blick starr geworden war, konnten wir ihn daher nur selbst segnen, waschen und in ein weißes Leichentuch hüllen. Wir saßen die ganze Nacht neben ihm und hielten Totenwache, trauerten, beteten und sahen nach Maman, ob sie noch atmete.
    Am nächsten Morgen war Mamans Fieber zu unserer Verblüffung gesunken, doch sie schlief noch immer tief und fest, ohne sich zu rühren. Und so machten wir uns auf der Stelle daran, uns um Papas Beerdigung zu kümmern, da es an jenem Tag sehr warm war.

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