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Kalogridis, Jeanne - Die Seherin von Avignon

Kalogridis, Jeanne - Die Seherin von Avignon

Titel: Kalogridis, Jeanne - Die Seherin von Avignon Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Unbekannter Autor
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seltsam stechenden Blick zu, ehe er fortfuhr. »Doch Ihr müsst die höchste Form der Magie lernen, wenn das Geschlecht erhalten bleiben soll. Denn in dieser Generation, Herrin, steht uns ein besonderes Übel bevor, so groß, dass selbst eine so begabte Seherin wie Ihr nicht genau wissen kann, wie es ausgehen wird, ob das Geschlecht überlebt, ob überhaupt jemand von uns den Flammen entkommen kann. Wenn wir sterben, dann sind alle Männer und Frauen ohne unseren heilsamen Einfluss verloren, sie sind dazu verdammt, ihre Nachbarn und sich selbst zu morden, bis die Welt entvölkert ist.« »Dann lehrt mich diese Magie«, beharrte ich ungeduldig, doch er schüttelte nur traurig den Kopf. »Ich wünschte, ich könnte es in diesem Augenblick tun und damit die Erde retten, doch es bleibt dem Herrn und der Herrin überlassen, sich zu finden und gegenseitig anzuleiten ...«
    Während er sprach, spürte ich, wie ich vor unbeschreiblicher Wonne fast ohnmächtig wurde bei dem Gedanken, mich mit dem mir bestimmten Herrn zu vereinen. Eine Zeit lang dachte ich an nichts anderes, und schließlich hörte ich Jakob fortfahren: »Erst dann wird ihre Magie die höchste und mächtigste sein. Das ist unbedingt vonnöten, um die Feinde des Geschlechts und der Menschheit zu besiegen.«
    Nun drehte Jakob sich feierlich zu der leuchtenden Kugel um, und zu meinem plötzlichen Entsetzen musste ich feststellen, dass sie nicht mehr hell und strahlend, sondern schwarz war.
    Nein, sie war mehr als schwarz, in ihr offenbarten sich die tiefste Leere, die höchste Negation, die Summe aller Hoffnungslosigkeit und das Entsetzen, das ich außerhalb meines ersten Kreises gespürt hatte und von dem ich wusste, dass es auf mich wartete. Ich schaute hinein und entdeckte die Gesichter verschiedener Männer: wieder ein Adliger, mit einem Schwert bewaffnet, ein Ordensmann und andere, die sich alle von jenen, die ich im Licht gesehen hatte, unterschieden. Feinde, und dennoch seltsam vertraut.
    »Diese Männer gehören ebenfalls dem Geschlecht an«, stellte ich bestürzt fest.
    »Ja«, bestätigte Jakob mir ruhig und gelassen, beinahe nachdenklich, während ich die größte Mühe hatte, mich auf meinen zitternden Knien aufrecht zu halten. Er wandte sich zu mir um und schenkte mir einen Blick voller echtem Mitgefühl.
    »Aber warum ...?«, fragte ich, und er antwortete rasch: »Sie fürchten sich vor dem, was sie sind. Das Tragische daran ist, Herrin, dass die meisten von ihnen Gutes tun wollen. Doch selbst eine so starke Kraft wie die Liebe kann letztlich nur zu Bösem führen, wenn sie von Furcht vergiftet ist.«
    Noch einmal blickte er in die schreckliche Leere. Das Mitgefühl des Juden verlieh mir eine gewisse Stärke. Auch ich schaute wieder hin, auf die Gesichter, die dort nacheinander auftauchten, und dachte, dass ich nie zuvor etwas so Mitleiderregendes gesehen hatte. Dann folgte die Leere
    In der Leere war nichts mehr zu sehen, doch ich konnte sie noch als Wirbel vor mir spüren: Unheil verkündend, wartend.
    Noch größeres Entsetzen packte mich, als Jakob neben mir fortfuhr: »Das ist der größte unserer Feinde.« Im Innern dieser Leere nahm nun der Körper eines Mannes Gestalt an ... allmählich, undeutlich, als wäre er in einen sich nur langsam auflösenden Nebelschleier gehüllt. Als sich seine Gesichtszüge herauszubilden begannen, packte mich ein solch grauenhaftes Entsetzen, dass ich laut aufschrie: »Nein! Nein! Ich kann nicht hinsehen! Ich kann nicht ...!« Ich sank auf die Knie und bedeckte beide Augen. Jakob hockte sich neben mich und flüsterte mir zu: »Ihr müsst, Herrin. Ihr müsst, sonst sind wir alle verloren ...« Doch ich konnte es nicht ertragen. Ich hatte genug Schrecken für eine Nacht gesehen. Fest hielt ich die Hände vor die Augen gepresst und kauerte auf der nassen Erde und dem Laub. Ich weiß nicht, wie lange ich so verharrte, am ganzen Leib zitternd, doch als ich die Hände schließlich herunternahm, waren Jakob und die Leere verschwunden.
    Auch der Himmel hatte sich verändert. Die tiefe Nacht war dem grauen Zwielicht der Morgendämmerung gewichen, die Sterne verblassten bereits. Zwar wirkten sie nicht mehr unendlich strahlend, doch waren sie immer noch heller als je zuvor, und auch der Wald sah nicht mehr taghell aus. Ich erschrak zutiefst, als mir bewusst wurde, dass die Nacht vorüber war und Maman bald aufstehen würde. Hastig lief ich zurück zur Höhle, doch Justin war längst fort und das Feuer erloschen.

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