Kalogridis, Jeanne - Die Seherin von Avignon
Glücklicherweise lagen mein Unterkleid, mein Kittel und mein Umhang noch an Ort und Stelle, sorgfältig zusammengelegt. Der Umhang war sogar trocken. In aller Eile zog ich mich an und lief den Hügel hinab zu unserer Kate.
Maman lag schnarchend im Bett, ebenso Noni, als wäre sie in dieser Nacht nie im Wald gewesen. Ich zog mich aus, schlüpfte zwischen die beiden und versuchte, meinen Atem zu beruhigen.
In der Stunde, bis Noni aufstand, konnte ich nicht einschlafen. Obwohl Jakob verschwunden war, hatte ich das Gefühl, als wohnte er jetzt in meinem Herzen, und alle Fragen, die mich seit meiner ersten Vision beschäftigt hatten, wurden nun eine nach der anderen beantwortet. Mit einem Mal erinnerte ich mich daran, wie er am Tag vor seinem Feuertod an unserer Kate gestanden und gesagt hatte: Carcassonne ist ein sicherer Ort. Herr, hatte meine Großmutter ausgerufen, in Carcassonne sind alle tot oder liegen im Sterben! Doch plötzlich wusste ich, dass er nicht die Sicherheit vor der Pest gemeint hatte, sondern vor dem weitaus größeren Übel, das uns jetzt noch bevorstand, vor den Flammen, die unsere Feinde entfachten, um uns zu vernichten.
Je eher ich mich nach Carcassonne begab, umso eher würde meine Bestimmung erfüllt.
Meine Bestimmung. Noni hatte Recht gehabt, sie lag nicht hier in den engen Grenzen unseres Dorfes, und sie würde sich mit Hilfe eben dieser Männer, die ich in der strahlenden Lichtkugel gesehen hatte, erfüllen. Vor allem lag sie nicht bei Justin, sondern bei dem Einen, dessen Gesicht ich nie vergessen würde. Ich war gezwungen, mich auf den Weg zu machen und ihn zu finden, denn nur dann wäre es uns möglich, das Geschlecht zu retten und das größte aller Übel zu besiegen.
Ich konnte es kaum erwarten, Noni zu erzählen, was mir alles widerfahren war. Zugleich jedoch war ich bekümmert. Wie sollte ich ihr beibringen, dass ich sie und Maman für immer verlassen, ihr das Recht nehmen würde, ihre Urenkel selbst auf die Welt zu holen? Als Noni schließlich aufstand, sprachen wir kein Wort, sondern schwiegen nur wie beiläufig, während wir unsere morgendlichen Arbeiten erledigten. Maman würde bald aufwachen, und es wäre dumm, das Risiko einzugehen und über die vergangene Nacht zu reden, wo es doch so viel zu berichten gab. Wir hatten schon lange unsere Absicht kundgetan, an diesem Morgen die letzten Sommerbeeren zu ernten - auf dem Anwesen des Seigneurs, dessen reichhaltige Obsternte zu viel für seinen dezimierten Haushalt war und jetzt den Leibeigenen offen stand -, wohl wissend, dass Maman, die noch immer trauerte, wie stets daheim bleiben würde. Noni und mir blieb also ausreichend Zeit, um über alles zu reden, was sich in der Nacht meiner Weihe zugetragen hatte.
Doch Maman wachte erregt auf und verkündete, es gehe ihr nicht gut. Als Noni und ich unsere Körbe nahmen und gehen wollten, packte sie mich ungewöhnlich fest am Unterarm und flehte: »Bleib bei mir, Marie Sybille. Ich werde ernsthaft krank, das spüre ich. Ich brauche deine Hilfe, und außerdem tröstet es mich, wenn du an meiner Seite bist.«
Ich zögerte und schaute meine Großmutter fragend an. Als pflichtbewusste Tochter konnte ich meiner Mutter diese Bitte unmöglich abschlagen, doch ich hoffte, Noni würde Maman versichern, dass wir bald zurückkehrten.
Sie zögerte nur einen Augenblick. Dann bat sie mich zu meiner Verblüffung ruhig, aber mit fester Stimme: »Bleib bei deiner Mutter, Sybille. Sie braucht dich wirklich.«
Was sollte ich darauf erwidern? Ich konnte doch nicht sowohl meiner Mutter als auch meiner Großmutter gegenüber ungehorsam sein. Widerwillig stellte ich meinen Korb ab, und Noni ging allein zur Tür hinaus. Ich machte es Maman auf dem Bett bequem und gab ihr vorsorglich schmerzstillende Tees zu trinken, obwohl ich keine Anzeichen von Fieber entdecken konnte. Mir fiel lediglich eine seltsame, beunruhigende Wildheit in ihren Augen auf. Der Kummer, dachte ich, hatte schließlich doch seinen Tribut von ihren Nerven gefordert, trotz des Schlaftrunks vom Abend zuvor. Ich verabreichte ihr noch einige beruhigende Kräuter, setzte mich dann zu ihr aufs Bett, arbeitete an meiner Hochzeitsdecke und erzählte ihr von lustigen Vorkommnissen im Dorf, in der Hoffnung, ihre Furcht dadurch zu zerstreuen.
Doch mit jeder Stunde, die verging, wurde sie unruhiger und sah immer wieder aus dem geöffneten Fenster. Ich schaute oft auf und folgte ihrem Blick, doch die Lehmstraße, die hinauf nach Toulouse führte,
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