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Kalogridis, Jeanne - Die Seherin von Avignon

Kalogridis, Jeanne - Die Seherin von Avignon

Titel: Kalogridis, Jeanne - Die Seherin von Avignon Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Unbekannter Autor
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Bestimmung. Und jetzt sieh, was es aus ihr gemacht hat! Alle Visionen, die Magie, haben sie schließlich in den Wahnsinn getrieben.
    Edouard redete besänftigend auf Paul ein: Diejenigen mit der größten Gabe sind am meisten gefährdet. Ich hätte etwas spüren müssen, hätte erkennen sollen, dass die Furcht sie überwältigen würde. Ich hätte euch beiden verbieten sollen, während meiner Abwesenheit zu arbeiten, oder hätte zumindest den Tag und die Stunde mit euch abstimmen sollen, als wir voneinander getrennt waren. Wir alle haben Fehler gemacht, du, Beatrice und vor allem ich. Doch Beatrice hat ihre Gabe auf natürliche Weise erhalten, und auch wenn in seltenen Fällen diejenigen mit den größten Gaben in den Irrsinn abgleiten, weiß ich doch, wie wir es hätten verhindern können. Der Junge muss sorgfältig ausgebildet werden, damit es ihm nicht ebenso ergeht. Das ist seine Bestimmung, Paul, so wie es Beatrices Bestimmung war, ihn unserem Geschlecht zuliebe auf die Welt zu bringen. Es wäre eine Tragödie, wenn wir jetzt nicht...
    Ein lautes Klirren von Metall auf Stein ertönte.
    Vielleicht ein Kelch, der gegen eine Wand geschleudert wurde. Luc zuckte zusammen, als sein Vater auf der anderen Seite der Wand schrie: Verflucht sei die Bestimmung! Es kann keine größere Tragödie als diese geben!
    Eine Zeit lang schwiegen sie, dann hörte Luc wieder Pauls Stimme, die plötzlich ruhig und bekümmert klang: Sie ist ein Juwel, Edouard, ein kostbarer Edelstein, die Liebe meines Lebens. Wie kannst du mir gegenüber von Bestimmung reden, wenn sie nebenan sitzt, eingesperrt hinter Schloss und Riegel, die sie davon abhalten, sich selbst oder ihrem Sohn etwas anzutun, und wo sie Gott weiß welchen geistigen Qualen ausgesetzt ist? Was kümmert mich das Geschlecht, wenn meine geliebte Beatrice für mich verloren ist?
    Gib mir den Jungen, bat Edouard mit fester Stimme. Selbst wenn meine Schwester unrettbar verloren ist, dem Kind können wir noch helfen.
    Paul erwiderte heiser: Nein. Ich erlaube dir nicht, danach zu fragen, Edouard. Ich habe meine Frau verloren. Luc ist alles, was mir geblieben ist. Aber zu verkennen, wer und was er ist, wird die Sache nicht ändern, Bruder. Das Schicksal wird ihn finden, ob er vorbereitet ist oder nicht.
    Edouard hielt inne, dann sprach er wieder wie stets in ruhigem, überzeugendem Tonfall. Gib mir den Jungen.
    Nein.
    Gib mir den Jungen. Gib mir den Jungen ...
    Luc sank in ein Delirium. Vielleicht schrie er dabei auf, denn er erinnerte sich an das besorgte Gesicht seines Vaters, dann Edouards, an Nanas, die sich nacheinander über ihn beugten. Verzweifelt warf er sich im Bett hin und her, das er für gewöhnlich mit Nana teilte.
    Und er litt dabei quälte ihn nicht so sehr die unerträgliche Erinnerung an das Leid, das er mit angesehen hatte, vielmehr die schreckliche Erkenntnis, dass er dazu verdammt war, so zu werden wie seine Mutter.
    Doch auch die Erinnerung an ein anderes Kind, das er kurz gesehen hatte, als er auf dem Podium gestanden und in die lodernden Flammen geblickt hatte, wollte ihn nicht loslassen. Die Erinnerung an ein dunkelhaariges Bauernmädchen, die Haare zu einem dicken Zopf geflochten, mit schmutzigen, bloßen Füßen, das am Rande eines Karrens balancierte, während es schrie ... dann hintenüberfiel und still liegen blieb, als hätte es der Schlag getroffen. Eine kleine Unruhe war entstanden, als die Familie der Kleinen sich über den Karrenrand lehnte und sie wieder hinaufzog. Sie hatten die öffentliche Hinrichtungen sofort verlassen, wenn sie auch Schwierigkeiten hatten, sich durch die Menschenmenge zu drängen.
    Luc konnte sich nicht erklären, warum er das alles überhaupt bemerkt hatte, denn dieser eine kleine Karren war einer von vielen in einer Menge von tausend Bauern und Kaufleuten, und er und sein Vater, der Grand Seigneur, waren immerhin durch den Exekutionswall und die Flammen vom gemeinen Volk getrennt.
    Dennoch durchlebte Luc in den schmerzenden Wogen, die noch oft über ihn hinwegrollten, diesen Augenblick immer wieder, als hätte er neben der Kleinen gestanden und sie nicht nur aus der Ferne gesehen: ihre schwarzen Augen, vor Schreck weit aufgerissen, ihr offener Mund, ihre gebräunten Arme, mit denen sie ruderte, um das Gleichgewicht zu halten ...
    Dann der Schrei, der Sturz hintenüber, und als die Menge sich teilte, ihre reglose Gestalt ...
    Luc warf sich auf dem Krankenlager hin und her, das Bild des Bauernmädchens verfolgte ihn erneut.

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