Kalogridis, Jeanne - Die Seherin von Avignon
Verzweifelt verlangte es ihn danach, sie zu retten, zu finden, zu erfahren, ob sie noch lebte. Er wusste, dass sie unter den vielen neugierigen, kaltherzigen Zuschauern in der Menge ebenso wie er das Leiden der Menschen in den Flammen empfand, dass sie ebenso wie er das blanke Entsetzen dessen begriffen hatte, was dort geschehen war.
Bei ihrem Anblick war ihm der Gedanke gekommen: Von allen hier ist sie am ehesten wie ich. Und wenn sie tot ist, dann werde auch ich sterben ...
Er fragte alle, die sich mit besorgter Miene über sein Bett beugten - Papa, Edouard, Nana -, ob jemand von ihnen das kleine Mädchen gesehen habe, das aufgeschrien hatte und vom Karren gefallen war. Niemand hatte sie bemerkt, und alle hatten seinen Kummer nachsichtig belächelt. Dann versuchten sie, ihn abzulenken. Er war zu jung, um ihre Herablassung als solche erkennen zu können, gleichwohl machte sie ihn zornig. Denn Luc hatte gedacht, wenn er vielleicht ihren Namen in Erfahrung brächte, könnte er die Kleine finden und wäre damit zufrieden, wenn sie sich erholt hätte und es ihr gut ginge.
In der Nacht wachte Bruder Michel kurz auf, verharrte aber in Gedanken noch immer im Traum, und verspürte in seinem Herzen eine so tiefe Befriedigung, dass ihm die Tränen kamen.
Sybille. Sie beißt Sybille ...
Übergangslos sank er in einen anderen Traum.
Ein Jahr später, vielleicht auch zwei, wachte der kleine Luc in einem derart riesigen Bett auf, dass seine Füße noch gefährlich weit über dem Boden schwebten, als er die Beine baumeln ließ. Halb glitt er aus dem Bett, halb sprang er auf den kalten Steinfußboden und tappte aus seinem Kinderzimmer in den überdachten Vorraum, in dem es jetzt, zu Beginn des Winters, kalt war, obwohl ein Feuer brannte. Wenn er auch gelassen wirkte, war er von einer inneren Unruhe angetrieben und fühlte sich, als hätte jemand sein Herz in die Hand genommen und führte ihn sanft, aber bestimmt hinaus in den Vorraum, dann den Korridor entlang und vorbei an dem schlafenden Wächter in die Gemächer seines Vaters.
Es überraschte ihn, dass die Tür dort einen Spalt breit offen stand, gerade weit genug für ein Kind, als hätte jemand insgeheim dafür gesorgt, dass Luc hineingelangen konnte.
Sein Vater lag auf dem großen Federbett, das von Bärenfellen und feinen Wollplaids bedeckt war. Ein heruntergebranntes Feuer verströmte ein warmes, orangefarbenes Licht. Auf einem Stuhl neben Pauls Lager saß sein treuer Diener Philippe, auf einem anderen Nana. Beide schnarchten mit einer Hemmungslosigkeit, wie sie nur älteren Menschen zu Eigen ist.
Verstohlen schlich Luc ans Bett und reckte auf Zehenspitzen den Hals, um seinen Vater besser sehen zu können. Der Grand Seigneur war erschreckend blass und abgehärmt, Schweißtropfen glitzerten auf seiner Stirn und in dem goldroten Bart. Das Gesicht wirkte sehr ernst, und die Stirn zeigte selbst in der Bewusstlosigkeit tiefe Sorgenfalten. Dann bewegte sich Paul und stöhnte leise und schwach vor Schmerzen, er litt schrecklich. Trotz der Bemühungen des Arztes hatte sich die klaffende Wunde am Bein entzündet, und man rechnete damit, dass er daran sterben würde. Sein Oberschenkel war auf einem Ritterturnier zu Ehren des Königs glatt von einer Lanze durchbohrt worden. Als der erfahrenste und geschickteste aller teilnehmenden Ritter war Paul zum Favoriten des Königs auserwählt worden, doch er war nicht mit dem Herzen beim Kampf gewesen ... Beinahe, flüsterten die Diener untereinander, als hätte er sterben wollen.
Mitleid, Anteilnahme und Bewunderung durchströmten Luc mit einer Macht, dass er einen Augenblick lang das Gefühl hatte, er könnte es kaum ertragen, und noch ehe er sich seiner Absicht bewusst wurde, war er auf das Bett geklettert und hatte die Decken fortgezogen, um den verwundeten und stark geschwollenen Oberschenkel seines Vaters freizulegen, der in feuchte Verbände gehüllt war. Die umliegenden Hautpartien glänzten violett. Der Anblick war entsetzlich, ganz zu schweigen von dem scharfen Geruch nach verwesendem Fleisch und saurem Schweiß, doch Luc verspürte keine Angst, nur den inneren Drang, der ihn dazu bewegte, seine kleinen Hände auf die heißen, feuchten Umschläge zu legen. Sogleich überkam ihn eine eigenartige Empfindung - eine ungekannte Hitze, das Summen Tausender Bienen -, die durch seinen Körper und seine Hände in die Wunde des Vaters überging. Lucs Handflächen wurden immer wärmer, das Vibrieren wurde stärker und brachte ein so
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